Freitag, 29. November 2013

Über die Frage, warum wir die Dinge nicht richtig unterscheiden und auf welche Art und Weise wir sie richtig erkennen können.

Der Grund, warum wir über die angeführten Dinge und über viele andere nicht richtig urteilen, liegt darin, daß wir nicht tief genug darüber nachsinnen, um sie gründlich zu erkennen, so wie sie wirklich sind, sondern wir lieben sie oder wir hassen sie aufgrund ihrer äußer­lichen Form, je nachdem sie unseren natürlichen Neigungen entweder entsprechen oder entgegengesetzt sind.

Auf diese Weise wird der Verstand durch die Liebe oder den Haß zu den Dingen verdunkelt und urteilt nicht richtig über deren wirklichen Wert. (Aus diesem Grund sagt Gregorios der Theologe, daß die Wahrheit von der Liebe oder vom Haß gestohlen zu werden pflegt. Nichts ist dem Menschen so süß und so angenehm, als die Worte der anderen zu reden, vor allem wenn sie von der Vorliebe oder von dem Haß angezogen werden, und von diesen Dingen wird die Wahrheit gestohlen („Apologetische Rede”).)
Also, mein Bruder, wenn du nicht willst, daß eine solche Täuschung in dir stattfindet, sei vorsichtig! Halte den Willen immer so rein als möglich und frei von jeder Anhänglichkeit an irgendwelche Sachen. Wenn du irgendeinen Gegenstand siehst, so betrachte ihn mit dem Verstand, übe Selbstbeherrschung! Achte auf deinen Willen, so gut du kannst, und erlaube ihm nicht, Liebe oder Haß dem Gegenstand gegenüber zu entwickeln. Auf diese Weise wird der Verstand nicht von Leidenschaft umgarnt; er bleibt frei und rein und kann die Wahrheit erkennen und in die Tiefe der Sache eindringen, dorthin, wo das Böse sich unter einer falschen Vergnügung versteckt oder wo sich das Gute unter der Ober­fläche des Schlechten verbirgt.
Hat dagegen dein Wille vorgegriffen und sich entschieden die Sache zu lieben oder zu verabscheuen, dann ist es zu spät. Der Ver­stand vermag nicht mehr diese Sache gut und gründlich zu erken­nen, denn diese Zu- oder Abneigung oder vielmehr diese Leiden­schaft befindet sich dazwischen wie eine Mauer und verdunkelt den Verstand derart, daß er einen ganz anderen Eindruck von der Sache hat, als sie in Wirklichkeit ist, und er vermittelt diesen Eindruck dem Willen. Je mehr der Wille in den Vordergrund rückt, desto mehr wird der Verstand verdunkelt. Und in diesem verdunkelten Zustand veranlaßt der Verstand den Willen, jene Sache noch mehr zu lieben oder zu hassen als je zuvor.
Wenn man sich daher nicht an diese Regel hält, die ich erwähnt habe (die überhaupt unerläßlich ist für die ganze Übung), das heißt, den Willen davor zu bewahren, eine Sache zu lieben oder zu hassen, dann gehen diese zwei Kräfte der Seele, der Verstand und der Wille, in einem Teufels­kreis von einer Finsternis in eine noch größere Finsternis und fallen von einem Fehler in einen noch größeren Fehler. Also, lieber Bruder, hüte dich mit aller Wachsamkeit vor jeder leidenschaftlichen Liebe oder jedem Haß einer Sache gegenüber, die du nicht vorher gründlich mit dem Licht des Verstandes und der guten Vernunft rationalen Denkens, mit dem Licht der göttlichen Schriften, mit dem Licht der Gnade und des Gebets und mit dem Urteil deines geistlichen Vaters untersucht hast, damit du keinen Fehler begehst und das wahrlich Gute als schlecht und das wahrhaft Schlechte als gut beurteilst. Da dies mit gewissen Werken oder Taten immer wieder der Fall ist, die an und für sich den Anschein haben, daß sie gut und heilig sind, aber unter gewissen Umständen vollbracht werden oder am falschen Ort und zur falschen Zeit oder über ein gewisses Maß hinausgehen, richten sie einen nicht zu unterschätzen­den Schaden bei denjenigen an, die unaufmerksam handeln. Tatsächlich kennen wir viele, die sich gerade wegen solcher Werke in Gefahr begeben haben.

Ausschnitt aus: "Der unsichtbare Krieg" - heiliger Nikodemus

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