Freitag, 22. November 2013

Was ist das EGO?- Interview mit Archimandrite Dionysios (Teil 2)

WIE: Von einigen der größten spirituellen Lehrer wurde gesagt, dass wir, wenn wir uns ernsthaft auf den spirituellen Weg begeben, häufig auf eine Weise mit dem Egokonfrontiert werden, die wir uns vorher nicht hätten vorstellen können. In den Beschreibungen ihrer Begegnungen mit dem Ego haben viele Heilige das Ego als eine fast diabolische innere Kraft beschrieben, die das spirituelle Leben nicht will, die Gott nicht will, sondern alles tun möchte, was in ihrer Macht steht, um unsere Erleuchtung zu behindern und unseren festen Entschluss zu untergraben, auf dem Weg zu bleiben.
DIONYSIOS: Der Heilige Paulus beschreibt diesen Kampf im Herzen des Menschen auf wunderschöne Weise. Er sagt: "Es gibt ein anderes Gesetz in mir, das mir sagt, den Willen Gottes zurückzuweisen, mein Handeln gegen Ihn zu richten, die Gnade zurückzuweisen. Es versucht, mich in meiner Vergangenheit, in meinem alten Leben zu halten, mich weit von Gott weg zu führen, zu verhindern, dass ich dem Herrn folge.“ Darum habe ich gesagt, dass das größte Problem des Menschen in seinem Innern, im Inneren jedes Menschen steckt, nicht außerhalb von ihm. Deswegen brauchen wir spirituelle Väter, spirituelle Ärzte. Ein chirurgischer Eingriff, eine Operation ist nötig; in unserem Herzen muss etwas durchgeschnitten werden. Wir begreifen nicht, dass dieser Feind, den wir in uns tragen, nicht unser Selbst oder unsere Persönlichkeit ist. Er ist nur eine Versuchung. Darin liegt auch der Keim des Problems des Egos. Wir vereinigen unsere Persönlichkeit, die unschätzbar wertvoll ist, mit unseren Fehlern. Wir verwechseln unsere Persönlichkeit mit unserer Sünde; wir verknüpfen diese beiden Dinge miteinander und haben einen ganz falschen Eindruck von dem, was wir sind. Wir wissen nicht, was wir sind, und wir brauchen jemanden, der uns zeigt, wer wir sind; wir brauchen jemanden, der uns die Augen öffnet, sodass wir zumindest in der Lage sind, unsere Dunkelheit zu sehen.
Es gibt einen Mystiker, den größten aller Mystiker, den heiligen Gregorius Palamas. Dreißig Jahre lang sprach er nur dieses eine Gebet: "Erhelle meine Dunkelheit. Erhelle meine Dunkelheit.“ Er nannte den Namen des Herrn nicht, weil er sich nicht würdig fühlte, ihn auszusprechen. Er richtete das Gebet an niemanden, betete jedoch Tag und Nacht, sprach das Gebet häufiger als seine Atemzüge. Denn das Einzige, was er von sich kannte, war seine Dunkelheit. Und dabei sprach er durchaus mit jemandem; er sprach mit Christus–mit wem sonst?–, der sagte: "Ich bin das Licht.“
Aber Gregorius Palamas sagte nur die Worte: "Erhelle meine Dunkelheit.“
WIE: Zeige mir meine Fehler?
DIONYSIOS: Oder komm in meine Dunkelheit und verbrenne sie. Mach ein Feuer darin, entzünde ein Licht darin. Das Größte, was wir in unserem Leben erreichen können, ist die Entdeckung, dass wir aus eigener Kraft nichts sind. Wir sind Dunkelheit. Wir sind Staub.
WIE: In der spirituellen Literatur wird das Ego häufig als ein schlauer und opportunistischer Gegner beschrieben, der die Fähigkeit besitzt, bei seinem Versuch, unseren spirituellen Fortschritt zu behindern, jede Situation zu seinem Vorteil zu verwandeln. Was ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Qualität im einzelnen Menschen, die uns helfen kann, den Kampf gegen das kluge und sich immer wieder verändernde Ego zu gewinnen?
DIONYSIOS: Reue. Das Erkennen unserer Fehler und unserer Sünden ist das Höchste, was wir tun können, und zwar nicht, weil wir bei irgendetwas Erfolg haben wollen, sondern nur, um die Wahrheit über uns selbst zu erkennen. Der Heilige Isaak, der große Mystiker der Kirche, sagt, dass jemand, der seine Sünden im Angesicht Gottes annimmt, der sie versteht und erkennt, tatsächlich der Höchste ist. Er ist größer als jemand, der die ganze Welt gewonnen hat, alle Menschen ernähren kann, Wunder tut, die Toten zum Leben erweckt. Dieser Mensch, der Allererste, ist größer, weil er nie abstürzen kann. Er besitzt eine Stabilität und eine Festigkeit und hat eine Stufe und einen Platz erreicht, die es ihm erlauben, zum Herrn zu sprechen. Er befindet sich an einem Ort, an den er mit seinen Tränen, mit seiner Reue, mit seinem Begreifen, etwas Falsches getan zu haben, den Herrn einladen kann. Und darin erfährt er sofort Klarheit. Das Licht kommt aus ihm. Er wird zu einem spirituellen Arzt, zu einem spirituellen Lehrer oder Vater, weil er keine Angst hat, seine Sünden zu erkennen. Es ist kein Problem für ihn, zu sagen: "Verzeihe mir, das war mein Fehler.“ Das ist der Schlüssel, um allen Fallstricken des Teufels aus dem Weg zu gehen.
WIE: Wäre es zutreffend, diese von Ihnen beschriebene Qualität–diese Bereitschaft, sich ehrlich mit sich selbst zu konfrontieren–als Demut zu bezeichnen?
DIONYSIOS: Nein, Demut ist das Resultat. Es wäre besser, diese Qualität "Weisheit“ zu nennen. Wir drängen uns dazu, demütig zu sein. Aber was hat das Erkennen meiner Fehler mit Demut zu tun? Muss ich demütig sein, um meine Fehler zu erkennen? Nein. Ich muss sie erkennen. Es ist eine Notsituation. Nur auf diese Weise kann ich die nächste Sekunde bestehen. Wie kann ich mit meinen Fehlern auch nur eine einzige Sekunde bestehen? In wessen Angesicht? Wie kann ich vor mir selbst bestehen–mit meinen Fehlern, mit meinen Sünden? Ich muss sagen: "Ich habe es getan.“
Dostojewski bringt dies in Schuld und Sühne auf sehr schöne Weise zum Ausdruck. Die Hauptfigur Raskolnikov tötet jemanden und begreift fast im gleichen Moment, was er da getan hat. Er erkennt es nicht aus eigener Kraft, sondern mit der Hilfe der strengen, harten Worte der Prostituierten Sonya, die ihm sagt: "Schau, was du da getan hast!“ Sie führt ihn mitten auf den Marktplatz, vor alle Leute hin, damit er sagt, was er getan hat. Und genau das macht er dann. Er legt ein Geständnis ab, beichtet seine Tat. Er sagt, dass er sonst nicht leben könnte, dass er sonst immer mehr Verbrechen hätte begehen müssen. Und er akzeptiert die Strafe des Gerichtes, ihn für mindestens zwanzig Jahre in das schlimmste Gefängnis zu stecken. Und er lässt sich einsperren, spürt dort die Medizin, die sein Herz für ihn bereithält. Und er nimmt diese Medizin. Wir haben im Leben Probleme, weil wir unsere Sünden nicht akzeptieren oder erkennen wollen. Und genau dies ist der Schlüssel. Was sonst haben wir einander zu bieten? Gold, Geld, Lust, gutes Essen? Ein langes Leben? Nein. Wir müssen nur unsere Sünden erkennen, und sofort sind wir in einer neuen Welt.
WIE: Sie scheinen von einer Art tiefem Gewissen zu sprechen, das sich regt, wenn wir uns selbst ins Angesicht schauen.
DIONYSIOS: Es ist Liebe. Liebe ist mehr als das Gewissen. Das Gewissen ist etwas, das uns sagt: "Tu dies, tu das, mach jenes!“ Das gleicht einem ständigen persönlichen, inneren Gericht. Liebe jedoch ist viel mehr. Liebe macht uns bereit, für die Sünden anderer zu büßen, und es ist eine viel höhere Stufe, wenn wir nicht nur unsere eigenen Sünden erkennen, sondern in der Lage sind, für Sünden zu büßen, die wir gar nicht begangen haben, so wie Christus es tat. Das ist Liebe.
WIE: In den Schriften der Kirchenväter wird als Ziel der spirituellen Reise eine Umgestaltung des Menschen in eine ganz andere Stufe des Menschseins genannt–eine Stufe, auf der das Ego vernichtet wird und auf der wir in gewissem Sinne wiedergeboren werden. Was bedeutet es für das Ego, zu sterben? Und in welchem Sinn werden wir wiedergeboren?
DIONYSIOS: Gott ruft uns zur Verwandlung auf. Er will uns unsere Wirklichkeit, unser wirkliches Selbst, das wir verloren haben, wiedergeben. Und im spirituellen Leben und ganz besonders im Leben eines Mönches kann das Ego tatsächlich transformiert werden, genau wie bei den Jüngern, die Christus auf den Gipfel des Berges Tabor folgten und Zeuge wurden, dass sich sein Körper in Licht verwandelte. Viele Kirchenväter versuchten zu erklären, dass der Leib Christi nicht tatsächlich auf diese Weise verwandelt wurde, sondern dass dies nur für die Augen seiner Jünger so aussah. In jenem Moment verwandelte sich nämlich ihr Sehen, und die Jünger konnten erkennen, was Christus immer schon gewesen ist–strahlend und voller Licht. Durch ihre Demut und weil sie Christus folgten, wurden sie auf den Gipfel dieses Berges geführt, um sich an dieser Wirklichkeit zu erfreuen. Und jeder von uns kann diesen Segen erfahren. Unser Wesen lässt sich transformieren.
Diese tief greifende Umwandlung ist unser wirklicher Fortschritt, unser wirkliches Wachstum. Dabei geht es überhaupt nicht darum, unser spirituelles Leben in Christus dazu zu verwenden, besser oder schlauer zu werden, mehr zu wissen oder unseren Freundeskreis zu vergrößern, andere zu beeinflussen, Autorität und Macht zu besitzen, Geld zu haben, gesund zu sein, einen guten Namen und ein gutes Gesicht zu haben. Es geht nur um das, was sich in unserem Herzen befindet.
Wichtig ist dabei, dass in der täglichen Praxis kein Samen des Egos im Acker unseres Herzens bestehen kann. Wenn die Versuchung kommt, kann diese die Qualität des Lebens und der Beziehungen zwischen den Menschen zerstören. Der Herr lehrte uns, in jedem Augenblick wach zu sein, zu ihm zu beten und zu sagen: "Schütze uns und lass uns nicht in Versuchung kommen.“ Durch diesen Schutz vor Versuchungen sind wir bald imstande, sehr klar in unsere Herzen hineinzusehen. Und indem wir ein möglichst einfaches, normales Leben führen, können wir uns läutern und unseren Geist und unsere Gedanken reinigen. Danach ist es für den Heiligen Geist sehr leicht, in uns einzutreten. Es ist wie bei der Eucharistie; wir sind alle gemeinsam in der Kirche mit dem Brot und dem Wein bereit. Wir beten, und der Heilige Geist kommt und verwandelt das Brot und den Wein in den Leib und das Blut Christi. Auf die gleiche Weise können auch wir uns reinigen, und der Heilige Geist kommt und verwandelt uns so, wie wir es in den Büchern gelesen haben, und lässt uns noch viel mehr erfahren, als alle Bücher der Welt berichten könnten

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