Samstag, 25. Januar 2014

Die Göttliche Liturgie als Vergegenwärtigung von Opfer, Kreuz und Heil - von Metropolit Anthony Bloom

Göttliche Liturgie im allerheiligsten Grabe des Herrn in Jerusalem

Ich möchte heute mit uns über die Göttliche Liturgie nachdenken, darüber, was sie darstellt, wie wir an ihr teilhaben können, und dies nicht nur während des Gottesdienstes. Da sind wir mit Herz und Seele dabei. Aber auch sonst gilt es an ihr teilzuhaben, woran die Menschen durchaus nicht immer denken und was doch aus einer grundsätzlichen inneren Beteiligung hervorgeht. Zunächst will ich mit euch darüber nachdenken, was Liturgie ist.

Im Mittelpunkt der Göttlichen Liturgie steht das Opfer Christi am Kreuz; zum Verständnis dieses Opfers befähigt uns das ganze Alte Testament, zumal jener Teil, den wir nicht immer so bewußt annehmen, nämlich die gesetzliche Regelung des Opferwesens. Häufig stellt sich die Frage, weshalb denn diese Opfer festgesetzt wurden, welchen Sinn die Darbringung eines Lämmchens zur Besänftigung Gottes haben könnte? Vermag denn das Blut wortloser Tiere eine Rechtfertigung und Reinigung für den Menschen zu sein? Hier gilt es zu begreifen, worum es bei diesen Geboten geht und wie das Alte Testament die Akzente setzt. Dabei wollen wir uns mit Herz und Seele in Zeiten versetzen, die der unseren nicht gleichen, die aber leicht verstanden werden können, wenn man sich etwa folgendes klarmacht: Da wird ein Auto von einem betrunkenen Fahrer gesteuert. Er überfährt einen Passanten und verletzt ihn tödlich. Was geschah? Wie kommt es, daß einer einen Fehler macht, und ein anderer dafür mit seinem Leben bezahlen muß? Genau darin besteht das Herzstück der Opferung in Bezug auf die menschliche Sünde.
Man stelle sich die Situation im Alten Testament vor: Jüdische Nomaden ziehen mit ihren Herden von Schafen und anderen Tieren umher. Da wird also bei einem Armen - Reiche gab es nicht - ein Lämmlein geboren. Wir sehen am Beispiel der alttestamentlichen Erzählung, die von einem Ereignis aus dem Leben des Königs David berichtet (2Sam), wie eng der Hirte mit dem Lämmchen verbunden war, das in seiner Herde geboren wurde. Es war nicht nur ein Zeichen für potentiellen Wohlstand, es wurde vielmehr gleichsam in seine Familie hineingeboren, man liebte es in seiner Gebrechlichkeit, es war klein und bedurfte des Schutzes, und es war auf Zuwendung und Wärme angewiesen.

In dieser Erzählung vom König David heißt es, er habe in seiner Verblendung einem anderen
Manne die Frau weggenommen, obwohl dieser im Krieg für ihn focht. Der Prophet Nathan will ihn ermahnen und kommt zu ihm. Er tut das nicht auf direktem Wege, sondern erzählt ihm ein Gleichnis: Es war ein armer Mann, und er hatte nur ein Schäfchen. Das lebte in seinem Hause, er fütterte es, beschützte es, ihm galt all seine Liebe und Fürsorge. Er hatte niemanden sonst auf der Welt, und so hielt er es wie ein Töchterchen. Und da war ein wohlhabender Nachbar, der einen Gast hatte. Er besaß viel Vieh, aber er schonte seine Herde und nahm das Lämmchen des Armen, ließ es schlachten und seinem Gast als Speise vorsetzen ... Wie reagierte David darauf? Er rief empört:
Dieser Mann ist des Todes. Er nahm das Kostbarste, was der Arme besaß, so daß ihm nichts blieb ...
Da sagte Nathan zu ihm: Du bist der Mann; Uria hatte nur einen Schatz, das war seine Frau, die er liebte, die ihm alles bedeutete, du aber bist König, du hast alles, und doch hast du sie ihm weggenommen ... Aus dieser Erzählung spüren wir die Wärme und Zuneigung, die zwischen dem Hirten und dem Schäfchen bestand, zwischen dem Menschen und seiner Herde.

Auch in Christi Erzählung vom verirrten Schaf wird dies deutlich. Rein "wirtschaftlich" betrachtet, hat ein in den Bergen verirrtes Schaf kaum eine Bedeutung. Sollte man denn 99 Schafe allein lassen, sie der Gefahr aussetzen, daß sie auseinanderlaufen und dem Wolf zum Opfer fallen oder von Räubern weggetrieben werden? Natürlich nicht! Schließlich werden neue Schafe geboren, die den Verlust ersetzen. Aber hier wird nicht wirtschaftlich gedacht, hier begegnet uns ein völlig anderes Verhalten. Das entlaufene Schaf ist Glied seiner Herde, hier wurde es geboren. Er wird es, solange es klein war, auf seinen Schultern getragen haben oder auf seinem Arm, wenn die Herde  einer neuen Weide zugetrieben wurde. Er achtete darauf, er schützte es vor Krankheit und Kälte, vor Hunger und wilden Tieren und wohl auch vor der Grobheit anderer Schafe. So war es nicht nur ein Schaf für ihn, das tausend andere ersetzen konnten, es war ein ihm vertrautes Tier, und deswegen kann er gar nicht anders, als es zu suchen. Wenn wir uns nun den Opfern im Alten Testament zuwenden, wollen wir dessen eingedenk bleiben, was wir über die Empfindungen des Menschen zu einem verlorengegangenen Schäfchen erfahren haben, drohte ihm doch der Tod! Da spricht der Herr zu ihm: Du bist ein sündiger Mensch. Du lebst unrein vor mir, und du tust Unrecht; und weil du Unrecht tust, mußt du mit eigener Hand eines deiner Schafe schlachten, und du sollst dafür ein makelloses Tier auswählen, das schönste, an dem dein Herz hängt, das deine Freude ist wie das Kind in deinem Hause... - Warum dies? Warum soll ich das tun? Weil das Unrecht des Schuldigen leidvoll dem Unschuldigen auferlegt wird. Wenn du es tötest, wirst du dir die Frage stellen, ob du abermals treulos, unehrlich, ungerecht handeln kannst? Du wirst inne, wer für deine Sünde bezahlt hat, und dir wird bewußt, wen der Fluch deiner Sünde trifft. So wurden jahrhundertelang die Menschen im Alten Testament erzogen, daß die eigene Sünde unbedingt Leiden, Qual und Tod dem Unschuldigen bringen muß, und der Schuldige dadurch verschont wird. Ein Ungerechter weiß sich aus der Klemme zu ziehen, aber der geliebte Reine, Zarte, Schutzlose bezahlt mit seinem Leiden als Konsequenz aus meiner Sünde. Darum war das Alte Testament gegenüber dem Menschen so streng: Du mußt das schönste Schäfchen aussondern und für den Tod bestimmen, mußt es zum Opfer bringen und augenscheinlich fast körperlich spüren, was Sünde bedeutet ... 

Sünde bedeutet Tod, Leiden, Schrecken, je Todesangst für ein unschuldiges Wesen, obwohl es deine Sünde ist, bringt sie ihm oder ihr Leid. Nunmehr wird klar, wie tödlich die Sünde wirkt. Damals hat eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war, das schrecklich an sich erfahren. Wahrscheinlich denken sie jetzt an das 8. Kapitel des Johannesevangeliums (Joh 8,3 ff.). Man hatte eine junge Frau beim Ehebruch ertappt und dem Gericht Christi überstellt: "Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du?" ... Ich will jetzt nicht darauf eingehen, was Christus gesagt hat; ich möchte vielmehr das Augenmerk auf die junge Frau richten. Sie hatte aus Leichtsinn, vielleicht auch verlockt und verführt, gesündigt. Wahrscheinlich hat sie wie wir alle gedacht: Ich werde es später durch Buße in Ordnung bringen, aber es wird immer wieder vorkommen, daß es kein anderes Mal gibt ... Hier war es so. Man ergriff sie. Sie sah sich vor Christus geführt und kannte das Gesetz. Nun begreift sie körperlich, seelisch, mit ihrem ganzen Wesen, wie Sünde und Tod das Gleiche sind.
Weil sie gesündigt hatte, wird sie nun sterben. Sie begreift, daß vor Gottes Gericht immer die Sünde den Tod nach sich zieht ... Es bewirkt die gleiche Erfahrung wie im Falle des Hirten und seines Lämmchens. Tod und Sünde scheinen für uns so weit auseinanderzuliegen, daß sie nichts miteinander zu tun haben; sündigen tue ich jeden Tag; sterben werde ich irgendwann einmal später.
Doch plötzlich wird unübersehbar, wie recht der Apostel Paulus hatte, wenn er den Tod der Sünde Lohn nennt (Röm 6,23). Wie recht hat das Buch Genesis, in dem eingangs berichtet wird, daß der Mensch sündigte und der Tod in die Welt kam. Uns deucht das so weit weg und unrealistisch, aber wie real wurde es für diese junge Frau, die für einen Augenblick der Sünde plötzlich vor dem Tod stand, dem endgültigen, dem plötzlichen. Und dieser Tod war grausam; von Steinen erschlagen zu werden, einsam zu sterben, von allen verworfen ... Eben das Gleiche durchlitt der Hirte, der seine Sünde auf ein geliebtes Tier legen mußte und damit seinen Tod bewirkte.
Darin bestand der Sinn alttestamentlicher Opferung, und deshalb sprechen Altes und Neues
Testament (das Alte Testament prophetisch, das Neue faktisch) von Christus als dem Lamm Gottes, das die Sünden der Welt auf sich nimmt (Joh 1,29).
Er nimmt die ganze Sünde der Welt auf sich. Er, der Makellose, Reine, Sündlose muß sterben, weil Er aus freiem Willen einer von uns werden wollte. Er ist nicht nur Gott im Himmel, Er ist Mensch auf der Erde. Ein sündloser, ein reiner Mensch, wie das Opferlamm rein und makellos sein muß.
Und weil sich um Ihn die Sünde häuft, bringt sie über Ihn Fluch und Tod. Christus wird für den Tod geboren. Bereits als Kind von Bethlehem ist Ihm wie einem neugeborenen Lamm das Los eines blutigen Opfers bestimmt. Wenn wir am Heiligen Abend vor der Krippe Christi stehen, sollten wir daran denken, was das bedeutet. Gewöhnlich zeigt uns die Weihnachtsikone eine Krippe. Ich denke an eine alte griechische Ikone, wo alles dargestellt wird, wie wir es gewohnt sind: die Grotte, die Jungfrau und Gottesmutter, Josef, die Hirten, die Engel, Tiere und die Weisen, aber etwas ist ganz anders als bei den sonstigen Ikonen. Statt der Krippe liegt Christus auf dem Opferaltar, ein hoher von Steinen errichteter Opferaltar, und Er liegt dort wie ein Lamm. Er liegt dort, weil Er dazu in die Welt kam, um für die Sünden der Menschen geschlachtet zu werden. Bereits im ersten Augenblick Seiner menschlichen Existenz war Er das Opfer.

Auch in der Taufe des Herrn wird dieses Bild lebendig. In der Weihnachtsnacht wurde der Retter nach dem Willen des Vaters und dem gehorsamen Liebeswillen des Sohnes geboren. Jetzt aber ist Er kein Säugling mehr, jetzt steht Er als ausgewachsener Mann, als der Christus Jesus im Wasser. Vormals bestimmte der göttliche Rat, der göttliche Entschluß unser Heil als durch den Kreuzestod des Gottmenschen vollzogen; jetzt aber beschließt nicht allein Gott, jetzt muß der Mensch Jesus Christus verwirklichen, was der ins Fleisch gekommene Gott durch Seine Inkarnation auf Sich nahm. Wieviele Menschen mögen vor Ihm zum Jordan gekommen sein, um von ihren Sünden symbolisch, bildhaft gewaschen zu werden. Sie tauchten unter in den Wassern des Stroms, und diese wurden gleichsam belastet mit der menschlichen Sünde, sie wuschen sie ab, und die Sünde blieb gleichsam in den Wassern als schwere Last mit tödlichem Ausgang zurück. In diese Wasser taucht der sündlose unschuldige Christus ein. Bei Ihm braucht nichts abgewaschen zu werden, Er ist rein, aber Er taucht unter in diese tödlichen und todbringenden Fluten, in die menschliche Sünde und steigt aus den Wassern, als habe Er diese Sünden auf Sich genommen und sie durch Sein Untertauchen wieder gereinigt. Die Fluten des Jordans bergen in sich Reinheit, die sie dadurch erwarben, daß Christus die Sünden aus ihnen auf Sich nahm, der Gottmensch heiligte sie durch Seine Berührung. Wir sind Christus gegenüber in der gleichen Lage wie der Hirte, wie der alttestamentliche Herr der Schafherde zu seinem Lämmlein, das er schlachten muß und dem Tode anheim geben, weil er selbst sündig ist.

Wir vermögen das nicht nachzuempfinden. Christus lebte vor 2000 Jahren. Die Ikonen haben diese schrecklichen Bilder veredelt, und der Gottesdienst hat all dieses Geschehen wohlanständig gemacht. Wir betrachten die Ikonen der Kreuzigung, ohne den sterbenden Menschen, Jesus Christus, am Kreuz wahrzunehmen, die Ruhe des Friedens hat sich auf diese argen Bilder gelegt. Aber wir dürfen das nicht vergessen! Wie können wir das vergessen und in der Liturgie nur einen schönen Gottesdienst sehen, der uns so viel gibt und uns so viel sagt?! Vermögen wir denn nicht durch diese Schönheit die tragische Realität dessen zu sehen, was sie darstellt? Der Tod ist nicht schön. Er kann erhaben sein, aber nicht schön sein. Wir müssen uns von den vertrauten Bildern, die uns im kirchlichen Gottesdienst begegnen, losreißen und hineinbegeben in die Realität der Ereignisse selbst.
Überall, während des ganzen Gottesdienstes, können wir das erleben. Kreuz und Kreuzigung,
worauf wir schauen, stellen für uns Opfer und Sieg Christi dar, aber wir dürfen nicht nur den Sieg sehen. Die Priesterkleidung weist uns auf die königliche Würde des Siegers Christus hin, wir aber sollten nicht vergessen, für welchen Preis der Menschensohn diese Würde erwarb. Häufig sagt man, der bischöfliche Gottesdienst konzentriere sich auf den Bischof. Daß wir doch verstehen könnten, was er an sich darstellt in den verschiedenen Handlungen, die ihn umgeben. Es sind schreckliche und durchaus nicht strahlende Bilder des Neuen und Alten Testaments. 
Der Bischof betritt die Kirche, er steht in ihrer Mitte, für alle sichtbar, und man nimmt ihm die Oberbekleidung ab. Ist das nicht ein Gleichnis dafür, was in der Passionsnacht mit Christus geschah, als Er entkleidet wurde und allein blieb, vor aller Augen die Geißelung, die Schande und den Spott erwartete? Christus hat zu Petrus gesagt: "Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst" (Joh 21,18). Auch der Bischof hebt die Arme, und man legt ihm den Gürtel an, der die Bereitschaft zur Tat symbolisiert. Wir können darin nur die Zurüstung zum Dienst des Bischofs sehen, wir können auch dieses schreckliche Bild sehen, das sich vor Petrus auftat, als Christus ihm jenen Tod ankündigte, den er sterben würde. Die Mitra symbolisiert die Dornenkrone, sind wir willig, das so zu sehen oder sind wir blind dafür? ... Und vor allen Dingen der Priester bekleidet sich vor dem  Dienst mit einem weißen Hemd, das Makellosigkeit und Reinheit darstellt, eben jene Reinheit des Lammes, das zur Schlachtung geführt wird. Gewiß, das sind Bilder, wir können sie wahrnehmen oder blind ihnen gegenüber sein, und das läßt sich über alles sagen, was in der Kirche geschieht. Schrecklich ist es nur, wenn wir uns von der Schönheit blenden lassen und von der Harmonie all dessen verzaubert werden, was vor unseren Augen abläuft und dabei vergessen, was es an sich bedeutet. Christus ist das Lamm, geboren zum Tod, gelegt in eine Krippe, die den Opferaltar darstellt, Er ist das Lamm geboren in einer Grotte, die die Grabkammer in jenem Garten ankündigt, wo Sein atemloser Körper - oder sagen wir’s einfacher: Sein Leichnam - nach einem schrecklichen Tod am Kreuz hingelegt wird. Und Sein ganzer Lebensweg führt Ihn zum Abendmahl.

Im Bericht über das Abendmahl wird bei den verschiedenen Evangelisten ziemlich vollständig das jüdische Passahmahl am Abend dargestellt. Aber das allein genügt nicht. Im Mittelpunkt der jüdischen Passahnacht stand das geschlachtete Lamm, das zerteilt wird. Und keiner der Evangelisten erwähnt das Lamm, weil der Mittelpunkt des Abendmahles Der ist, Der Gottes Lamm ist. Das Lamm des Alten Testaments, das Lamm der Opferung war nur ein Bild, eine Vorbereitung darauf, daß wir verstehen und sehen sollten. Jetzt ist es nicht mehr nötig: Inmitten der Jünger sitzt das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich nimmt, dem Tod und der Kreuzigung entgegengeht.
Erinnern wir uns an den Propheten Jesaja, der von Christus sagt: "Seht, mein Knecht ... Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen. Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen, Könige müssen vor ihm verstummen. Denn was man ihnen noch nie erzählt hat, das sehen sie nun; was sie niemals hörten, das erfahren sie jetzt. Wer hat unserer Kunde geglaubt? Der Arm des Herrn - wem wurde er offenbar? Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Sproß, wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, so daß wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, daß wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er
wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen. Er wurde mißhandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf. Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen. Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war. Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht), er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen. Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich. Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen, und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen
ein" (Jes 52,13-53,12).  
Und von der Gottesmutter heißt es: "Freu dich, du Unfruchtbare, die nie gebar, du, die nie in Wehen lag, brich in Jubel aus und jauchze! Denn die Einsame hat jetzt viel mehr Söhne als die Vermählte, spricht der Herr" (Jes 54,1).
Wir haben hier Bilder der Opferung, prophetische Worte. Das ganze Alte Testament ist darauf ausgerichtet, daß das Lamm Gottes kommt, zum Sterben geboren wird, die Sünde auf sich nimmt, die Wahrheit verkündigt, Heiligkeit offenbar macht, Sich freiwillig Folter und Qual aussetzt, am Kreuz stirbt und durch den Tod den Tod besiegt.
In dieser Nacht freilich geschah etwas Besonderes. Christus nämlich, der große Hirte, der Hohepriester der Kirche hat diesen göttlichen Dienst Selbst vollzogen. Er brach das Brot, Er
verteilte den Kelch und dennoch bleiben die Jünger, die an diesem Brot und Kelch teilhatten,
diejenigen, die sie früher gewesen waren. Denn dieses Abendmahl, das von Christus noch auf der Erde gefeiert wurde, war Prototyp dessen, was kommen sollte im Laufe der nächsten Tage, die wir die Leidenswoche nennen. Es war gewissermaßen eine Schau jener Liturgie, die wir nach Kreuz und Auferstehung, nach Himmelfahrt und Pfingsten hier vollziehen. Sie war ein Vorbild auch deswegen, weil das Wesen des Geheimnisses noch nicht vollendet war. Die Nacht von Gethsemane, der Verrat, die Leidenstage, Kreuz, Auferstehung und Verherrlichung des Erlösern waren noch nicht geschehen, und die Gabe des Heiligen Geistes, Der auf die Jünger fallen sollte, um sie fähig zu machen, Frucht zu tragen, war noch nicht ihnen gegeben. In diesem Sinne war auf unbegreifliche, schreckliche Weise, dieses Abendmahl, von Christus Selbst vollzogen, noch Erwartung des künftigen, größeren, realen.
Allerdings hat Christus das ganze Werk der Rettung vollbracht, alles ist getan, nichts mehr
hinzuzufügen in der Ordnung des göttlichen Heilsplans, und wir feiern die Liturgie. Aber auch sie ist nur ein Abbild dessen, was wir erwarten, trotz ihrer unbegreiflichen Größe, ungeachtet dessen, daß in ihr uns real, gegenständlich, geistlich das ewige Leben vermittelt wird, erwarten wir dennoch das größere. Nach der Kommunion sagt der Priester in einem kurzen Gebet: "Gewähre uns, Wahrhaftiger, mit Dir zu kommunizieren am abendlosen Tag Deines Reiches." Denn diese Göttliche Liturgie stellt gleichzeitig sowohl das Geheimnis der rettenden Tat Christi als auch das des künftigen Äons dar, der in seiner Fülle in all seiner Macht und Herrlichkeit erst nach der zweiten Wiederkunft Christi offenbar wird. Dennoch ist dies nicht nur Erwartung, nicht nur ein Bild; die Göttliche Liturgie ist nicht ein Gleichnis, sie ist Realität, aber eine Realität, die wir jetzt noch nicht in ihrer Fülle begreifen können und die uns noch nicht in ihrer ganzen Macht und Herrlichkeit zuteil werden kann. In der Göttlichen Liturgie geschieht ein Wunder, nämlich das, daß alles, was wir in Zukunft noch erwarten, in einem uns zugänglichen Maße bereits jetzt geschenkt wird. In einem der stillen Gebete des Priesters heißt es: "Laß uns heute Anteil haben an Deinem Reich, welches noch kommen wird: Laß uns heute teilhaben an dem, was noch bevorsteht." Denn die Liturgie ist nicht

Bild noch Gleichnis, sondern eine Vorwegnahme, ein Vorgeschmack, weil in der Göttlichen Liturgie schon jetzt (für einen Augenblick und in jenem Maße, in dem es uns zugänglich wird nach unserem Verhaftetsein im Fleisch, nach unserer Sündhaftigkeit und nach der Sündhaftigkeit der ganzen Welt) wir die Ewigkeit vorwegkosten, an ihr teilhaben, mit ihr kommunizieren. Und darin besteht bei der Spendung der Sakramente der eigentliche Sinn der Anrufung des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist gibt Zeugnis, daß das künftige Zeitalter schon angebrochen ist. Das künftige Zeitalter (wir wissen es selbst) ist für uns erst partiell heraufgekommen; obwohl erkauft, sind wir dennoch sündhaft; obwohl in der Vereinigung mit Christus, sind wir nicht wie Er makellose Lämmer; obwohl wir die Gabe des Heiligen Geistes empfangen haben, brennen wir nicht in einer hellen Flamme, sondern trübe und von Zeit zu Zeit.

In diesem Sinne ist das künftige Zeitalter, die Teilhabe sowohl an der Fülle dessen, was der Mensch in Christus darstellt, als auch am Leben des Geistes in uns nur partiell ausgeprägt. Und deswegen bleibt das Festmahl der Ewigkeit, an dem wir teilhaben, Erwartung und Vorgeschmack, Sehnsucht nach ihm, aber nicht Realität in ihrer Fülle. Wir rufen den Heiligen Geist, Er kommt herab, Er erfüllt alle mit Sich: Brot und Wein werden tatsächlich zum Leib und Blut Christi; aber wir sehen sie nicht brennend und leuchtend in der göttlichen Teilhabe. Zwar empfangen wir die Geheimnisse, und in uns wird für einen Augenblick das Licht göttlicher Gegenwart entfacht, aber trübe, sacht, nicht für lange. Wir leben einerseits von jener Fülle, die uns gegeben wird - und nicht nach Maß (Joh 3,34) - , sondern die wir empfangen nach dem Maße unserer Kräfte; und andererseits leben wir in der Erwartung dessen, daß diese Göttliche Liturgie einst kein Gottesdienst, sondern Realität des ganzen Lebens sein wird, wenn dann, wie das Buch der Offenbarung sagt (Offb 21,22), im neuen
Jerusalem es keinen Tempel mehr geben wird, weil Gott der Tempel ist, und es wird keinen
Gottesdienst mehr geben wird, keine Opfer, sondern nur noch eins: das Leben Gottes, das wie ein Strom, wie eine Quelle in uns fließt und sprudelt. 
Das ist es, was wir erwarten; dennoch ist die Göttliche Liturgie, wie wir sie jetzt kennen und wie  wir sie feiern, bereits heute siegreiche Wirklichkeit, weil sie die Sünde, den Tod, den Hades besiegt. Es ist Vorgeschmack der letzten Herrlichkeit und des großen Triumphes, aber es ist schon der Sieg Gottes auf der Erde und unsere Teilhabe an diesem Sieg.
Wenn wir diese ganze grandiose Kette von Ereignissen bedenken, sehen wir, daß jedes Ereignis gewissermaßen ein Vorzeichen, eine Vision dessen ist, was sein wird, und damit zugleich eine Teilhabe an dem, was kommen wird; denn das, was kommt, ist bereits in Gott Realität, in Seiner Weisheit und in Seiner Liebe. Das Blut der Lämmer hat schon die alttestamentliche Menschheit gereinigt im Blick auf das kommende Lamm; das Blut des Lammes Christi hat schon das Geheimnis der Göttlichen Liturgie gefeiert, obwohl das, was beim Abendmahl geschah, nur ein Abbild dessen war, was in der Passionswoche und in den Ostertagen sich vollendet und was durch die Jahrhunderte in unseren bescheidenen Kirchen geschieht. Damals hielt Christus den Gottesdienst, Er, das Lamm, aber das Ereignis war noch nicht vollendet, und so blieb es ein Abbild.
Jetzt vollziehen wir diesen Gottesdienst, obwohl das Ereignis abgeschlossen ist, und die
Wirklichkeit der Teilhabe daran ist ganz hier, aber daß sie nicht Christus Selbst vollzieht, erinnert uns daran, daß all das noch auf der Erde ist; wir aber erwarten die kommende himmlische Herrlichkeit. 

http://spc-wuerzburg.blogspot.com/2010/09/die-gottliche-liturgie-als.htm

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