Vorrede
1. Βrüder und Väter, eigentlich dürfte ich nicht wagen, überhaupt zu euch zu sprechen, noch auch die Position des Lehrers einzunehmen vor eurer Liebe. Doch wie ihr wißt – das vom Künstler gebaute Musikinstrument läßt seine Klänge nicht dann ertönen und erfüllt die Ohren aller nicht dann mit süßen Melodien, wenn es dies will, sondern wenn der Atem[2] des Künstlers das Rohr füllt oder wenn die Saiten im Wohlklang angeschlagen werden von seinen Fingern. Dasselbe, so müßt ihr begreifen, geschieht auch mit mir. Achtet daher nicht auf die Geringheit des Instruments, damit sie euch nicht abgeneigt mache gegenüber dem, was im Folgenden gesagt werden wird. Richtet euren Blick vielmehr auf die Gnade des Heiligen Geistes, die von oben her die Seelen der Gläubigen inspiriert und erfüllt, und auf den Finger Gottes Selbst (s. Lk 11,20), der die Saiten des menschlichen Geistes[3] anschlägt und uns bewegt zum Reden. Wie dem Schall einer königlichen Trompete, oder um es richtiger zu sagen: dem König aller, Der gleichsam wie vermittels eines Instruments zu uns spricht, hört zu mit Verstand und in aller Ruhe.
Der Sinn der Worte des Herrn: «Mich hungerte…» (Mt 25,42)
2. Wir Menschen alle, Gläubige wie Ungläubige, Kleine wie Große, sind gehalten, die Dinge zu prüfen und auf uns selbst zu achten – die Ungläubigen, damit wir zur Erkenntnis Gottes kommen und zum Glauben an Ihn, Der uns erschaffen hat; die Gläubigen, damit wir uns durch rechte Lebensführung und durch jedes gute Werk als Gott wohlgefällig erweisen; die Kleinen, damit wir uns um des Herrn willen den Großen unterordnen; die Großen, damit wir uns den Kleinen gegenüber verhalten wie gegenüber unseren eigenen Kindern, gemäß dem Gebot des Herrn: «Was ihr irgendeinem dieser Geringsten getan hat, habt ihr Mir getan» (s. Mt 25,40).
Dies sagte der Herr nicht etwa nur in bezug auf die Armen, wie einige meinen, d.h. in bezug auf jene, die der körperlichen Nahrung entbehren, sondern auch in bezug auf alle anderen unserer Brüder, die nicht verzehrt sind vom Mangel an Brot und Wasser, sondern vom Mangel an guten Werken und an Gehorsam gegenüber den Geboten des Herrn. Denn geradeso wie die Seele kostbarer ist als der Körper (s. Mt 6,25; Lk 12,23; s. a. Mt 16,26), so auch ist die geistige Nahrung nötiger als die körperliche, und deshalb glaube ich, dass der Herr weit mehr über die erstere spricht als über die vergängliche Nahrung des Körpers, wenn Er sagt. «Mich hungerte, und ihr gabt Mir nichts zu essen; Mich dürstete, und ihr gabt Mir nichts zu trinken» (Mt 25,42). Denn Er dürstet und hungert in Wahrheit nach der Rettung eines jeden von uns. Unsere Rettung aber ist die Enthaltung von jeder Sünde.
Enthaltung von jeder Sünde ist unmöglich zu erlangen ohne das Werk der [evangelischen] Tugenden und das Halten aller Gebote. Mit dem Halten der Gebote mithin will der Gebieter, Gott und Herr des Alls ernährt werden von uns. Die Heiligen Väter sagen, dass die Dämonen sich ernähren von unseren bösen Taten und gestärkt werden durch sie, doch wenn wir uns enthalten vom Tun des Bösen, darben sie und werden schwach. So auch glaube ich, dass Derjenige, Der arm wurde um unserer Rettung willen (s. 2 Kor 8,9), ernährt wird durch unser Tun des Guten und hungert, wenn wir Seine Gebote mißachten. Dies sehen und erfahren wir aus dem Leben der Heiligen. Um von den zahlreichen Beispielen, zahlreicher wahrlich als der Sand am Meeresufer, nur ein einziges zu nehmen, will ich eurer Liebe jenes einer heiligen Asketin nennen.
Das Beispiel der hl. Maria der Ägypterin
Das Beispiel der hl. Maria der Ägypterin
3. Ich weiß, dass man euch [während der Tafel] das Leben der heiligen Maria der Ägypterin[4] vorliest, erzählt nicht von jemand anderem, sondern von ihr selbst, jener Engelgleichen, die uns ihre einstige Armut bekennt mit den Worten: «Oftmals, wenn man mir den Lohn der Sünde gab, nahm ich ihn nicht an, und das nicht etwa, weil ich wohlhabend gewesen wäre und ich ihn nicht nötig gehabt hätte – ich ernährte mich von der Flachsspinnerei -, sondern weil ich viele Liebhaber haben wollte zur Befriedigung meiner Leidenschaft.» Sie war so arm, dass sie, als sie sich anschickte, in Alexandria das Schiff zu besteigen [um ins Heilige Land zu reisen], nicht einmal genug hatte, um die Überfahrt und ihren Unterhalt zu bezahlen. Und als sie danach auf Weisung der Allreinen Gottesmutter in die Wüste floh, überquerte sie den Jordan versehen nur mit ein paar Broten, die sie mit zwei als Almosen empfangenen Münzen gekauft hatte, und harrte bis ans Ende ihres Lebens in der Einöde aus, ohne je wieder einem Menschen zu begegnen, mit Ausnahme von Zosimas. Selbstverständlich auch ohne Hungernde zu speisen, Dürstende zu tränken, Nackte zu bekleiden, Gefangene zu besuchen oder Fremde aufzunehmen (s. Mt 25,35-38). Ganz im Gegenteil hatte sie ja zuvor viele in den Abgrund des Verderbens gezogen, indem sie sie in der Herberge der Sünde empfing.Wie also, sag mir, kann sie gerettet werden und zusammen mit den Barmherzigen in das Reich der Himmel einziehen, wo sie doch weder Besitztümer verlassen, noch Vermögen an die Armen verteilt, noch je irgendein Almosen gegeben hat, sondern vielmehr unzähligen Menschen zum Anlass der Verderbnis geworden ist? Begreifst du nun, wie unsinnig es ist, zu meinen und zu sagen, dass Almosen nur in Form von Geld und körperlicher Nahrung gegeben werde, dass wir den Herrn nur mit solcher Nahrung speisen und dass nur jene gerettet werden, die Ihn auf solche Art speisen und tränken, kurz gesagt, die Ihm auf solche Art dienen, während alle anderen, die dies nicht tun, zugrunde gehen. Denn wäre es so, müßten viele Heilige aus dem Himmelreich vertrieben werden! Doch es ist nicht so, bei weitem nicht!
Alles gehört Gott, Der es allen Menschen gleicherweise zum Gebrauch übergeben hat
4. Die Dinge und Sachen dieser Welt sind gemeinsames Gut aller, geradeso wie das Licht und wie die Luft, die wir atmen, oder wie die Weiden der vernunftlosen Tiere in den Tälern und auf den Bergen. Alles ist allen gemeinsam gegeben zum Gebrauch und zum Genuß allein, zum Eigentum aber keinem (s. Apg 2,44-45 und 4,32). Die Habgier jedoch, die wie ein Tyrann das Leben übermannt hat, verteilte auf diese oder jene Art das, was der Gebieter allen zum gemeinsamen Gebrauch gegeben hat, an ihre Sklaven und Diener, umschloß es mit Mauern, sicherte es mit Türmen, Toren und Riegeln und beraubte so alle anderen Menschen des Genusses der Güter des Gebieters, wobei jene Schamlose geltend macht, sie sei Gebieterin über all das, und hartnäckig behauptet, damit füge sie absolut niemandem Unrecht zu. Was aber die Diener und Sklaven dieser Tyrannin betrifft, so werden sie, einer nach dem anderen, nicht etwa Eigentümer der anvertrauten Güter und Sachen, sondern böse Knechte und Verwalter (s. Mt 18,32 und 25,26). Wenn sie danach, aus Furcht vor den Strafen, die ihnen drohen, oder in der Hoffnung auf Empfang des Hundertfältigen (s. Mk 10,30) oder aus Erbarmen über das Leid der Mitmenschen ein Weniges davon oder auch alles herausgeben an jene, die sie bis dahin dahinkümmern ließen in ihrer Not und Entbehrung – werden sie dann als Barmherzige gelten oder als solche, die Christus spiesen und belohnenswerte Werke taten? Mitnichten, sondern ich sage euch, als solche werden sie gelten, die überdies Reue schulden bis zum Tod für all die Jahre, da sie ihren Brüdern den Gebrauch dieser Güter vorenthielten!
Wie wir Christus in Wahrheit aufnehmen und speisen
5. Wie nun ist es möglich, dass wir, die wir als solche gelten, die um Christi willen arm geworden sind – so wie Er, der Gott ist und reich, arm wurde um unsertwillen (s. 2 Kor 8,9) –, durch unser Erbarmen über uns selbst als solche erfunden werden, die sich erbarmen über Den, Der um unsertwillen geworden ist wie wir?
Versteh recht, was ich sage: Um deinetwillen wurde Gott zum armen Menschen, deshalb schuldest auch du, der du an Ihn glaubst, arm zu werden wie Er. Er wurde arm hinsichtlich der Menschlichkeit. Du bist arm hinsichtlich der Göttlichkeit.[5] Erwäge mithin, wie du Ihn ernährst, achte genau darauf. Er wurde arm, damit du reich werden möchtest, damit Er dir vom Reichtum Seiner Gnade übermitteln kann (s. Eph 1,7; 2,7). Deshalb nahm Er Fleisch an, damit du Anteil empfangen möchtest an Seiner Göttlichkeit. Wenn du dich mithin bereitmachst, Ihn zu empfangen, so nennt Er das Sein Aufgenommenwerden durch dich (s. Mt 25,35). Wenn du um Seinetwillen hungerst und dürstest, gilt Ihm das als Speise und Trank (s.ebenda). Wie das? Durch solche und ähnliche Werke und Askesen reinigst du deine Seele und befreist dich von der Hungersnot und dem Schmutz der Leidenschaften, und weil Gott dich auf Sich genommen und all das deinige zum Seinigen gemacht hat und Sich sehnt, dich zum Gott [der Gnade nach] zu machen, so wie Er Selbst zum Menschen wurde, gilt Ihm alles, was du zu deinem Heil tust, so als hättest du es Ihm getan, und deshalb sagt Er zu dir: «Alles was du dieser Geringsten, deiner Seele, getan hast, hast du Mir getan» (s. Mt 25,40).
Das gottgefällige Werk der heiligen Eremiten
6. Durch welche Werke haben denn jene Gott wohlgefallen, die fernab in Höhlen und Bergen hausten (s. Hebr 11,38), wenn nicht durch jene der Liebe, der Metanie und des Glaubens? Denn indem sie die Welt insgesamt verliessen und Ihm allein folgten (s. Mt 10,37ff; Mk 10,28, Lk 14,26-35), nahmen sie Ihn auf und boten Ihm Unterkunft in ihren Herzen, und mit ihrer Metanie und ihren Tränen spiesen und tränkten sie Ihn, Der hungerte und dürstete.
Im übrigen – sind etwa alle, die auf Grund der Heiligen Taufe Söhne Gottes geheißen werden, auch Geringste und Arme nach dem Maßstab der Welt? Diejenigen, die zutiefst in ihrer Seele empfinden, dass sie Söhne Gottes geworden sind, ertragen es nicht länger, sich mit vergänglichem Schmuck zu schmücken, haben sie doch Christus angezogen (s. Gal 3,27). Denn welcher Mensch, der in königlichen Purpur gewandet ist, würde je einwilligen, denselben mit einem schmutzigen und zerfetzten Kleid zu überdecken? Jene wiederum, die solches nicht kennen und des königlichen Gewands bar sind, aber sich durch die Metanie und die anderen der obenerwähnten guten Werke darum bemühen und Christus auf diese Weise anziehen, bekleiden so Christus Selbst, sind doch auch sie Christusse, Söhne Gottes kraft der göttlichen Taufe. Tun sie aber nichts dergleichen, sondern bekleiden stattdessen alle Nackten dieser Welt, während sie sich selbst nackt lassen, was haben sie davon?
Nachdem wir getauft worden sind im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, werden wir Brüder Christi geheißen (s. Mt 25,40; Hebr 2,11-12). Mehr noch, wir sind Seine eigenen Glieder (s. 1 Kor 6,15; 12,27 usw.). Da du nun Bruder Christi bist und Glied Seines Leibes – wenn du alle anderen ehrst, beherbergst und pflegst, dich selbst aber vernachlässigst und nicht mit allen Mitteln darum ringst, die höchste Stufe des gottgemässen Lebens und der Ehre vor Gott zu erreichen, sondern deine Seele der Hungersnot der Trägheit oder dem Durst der Faulheit überläßt oder sie einschließt im engen Gefängnis des unreinen Körpers durch deine Gefräßigkeit und Genußsucht, beschmutzt, vernachlässigt, darniederliegend in tiefster Finsternis wie eine Tote, beleidigst du da nicht den Bruder Christi? Läßt du ihn nicht darben und verdursten? Hast du ihn vielleicht im Gefängnis besucht (s. Mt 25,42-43)? Deshalb also wirst du zu hören bekommen: «Da du dich deiner selbst nicht erbarmt hast, wirst auch du kein Erbarmen finden.»
Falsche Ansprüche der Reichen
7. Wendet aber jemand ein: «Wenn es sich so verhält und wir für die von uns weggegebenen Güter und Gelder kein Entgelt empfangen, wozu sollen wir dann überhaupt den Armen geben?», so vernehme er, was Derjenige, Der ihn dereinst richten und jedem nach seinen Werken vergelten wird (s. Mt 25,31ff, Röm 2,6 / Ps 61,13), zu ihm sagt:’«Du Tor, was hast du mitgebracht in diese Welt (s. 1 Tim 6,7), oder was von dieser sichtbaren Schöpfung hast du geschaffen? Kamst du nicht nackt aus dem Schoß deiner Mutter hervor (s. Hiob 1,21)? Und wirst du nicht nackt wieder ausziehen aus diesem Dasein und entblößt vor Meinen Richterstuhl hintreten? (Röm 14,10; Hebr 4,13). Für welche deiner Besitztümer forderst du Entgelt von Mir? Mit welchen deiner Güter behauptest du, dich deiner Brüder erbarmt zu haben und durch sie Meiner Selbst, Der Ich all das nicht nur dir, sondern allen gemeinsam übergeben habe? Oder glaubst du vielleicht, Ich begehre irgendetwas davon? Meinst du etwa, auch Ich lasse Mich kaufen, so wie die Habsüchtigen unter den menschlichen Richtern? Denn es ist durchaus möglich, dass du in deiner Torheit auch solches denkst. Nein, nicht Besitztümer begehre Ich, sondern Mich zu erbarmen über euch. Nicht das eurige empfangen will Ich, sondern euch befreien von der Verurteilung, die diese Dinge bringen. Deswegen also gebe Ich euch diese Gebote und aus keinem anderen Grund.»
Die Sünde des Anhäufens von Reichtum
8. Denk ja nicht, Bruder, Gott sei ratlos und außerstand, die Armen zu ernähren, und deshalb schreibe Er vor, dass wir Barmherzigkeit üben an ihnen und dieses Gebot sehr ernst nehmen. Keineswegs! Sondern was der Teufel vermittels der Habsucht gegen uns gewirkt hatte zu unserem Verderben, das hat Christus durch das Gebot der Barmherzigkeit um unsertwillen umfunktioniert, damit es uns zum Heil gereiche. Was will ich damit sagen? Der Teufel gab uns ein, das, was zum gemeinsamen Gebrauch allen übergeben worden war, für uns selbst zu nehmen und anzuhäufen, womit er bezweckte, uns durch diese Habgier zwei Verbrechen aufzubürden und uns so der ewigen Verurteilung und Züchtigung auszuliefern. Das eine dieser Verbrechen ist die Unbarmherzigkeit, das andere, unsere Hoffnung auf die angehäuften Güter zu setzen, statt auf Gott. Denn wer angehäufte Güter besitzt, kann nicht auf Gott hoffen. Und dies geht klar hervor aus dem, was Christus unser Gott zu uns gesagt hat: «Wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz» (Lk 12,34).
Wer mithin von diesen angehäuften Gütern allen gibt, der hat nicht nur kein Anrecht auf Entgelt hiefür, sondern er steht außerdem unter dem Schuldspruch, diese Güter bis dahin ungerechterweise den anderen vorenthalten zu haben. Und nicht nur das, er ist auch verantwortlich für den Tod derjenigen, die zu verschiedenen Zeiten verhungerten und verdursteten, obwohl er damals imstand gewesen wäre, sie zu ernähren, dies aber nicht tat, sondern das den Armen Gehörende vergrub und dieselben eines grausamen Todes durch Kälte und Hunger umkommen ließ. So erweist er sich als Mörder all jener, die er hätte ernähren können (s. Jak 2,15-16; 5,1-3).
Das freudige Geben gefällt Gott und macht das Herz frei von der Bürde des Besitzes
9. Doch der gute und barmherzige Gebieter erläßt uns die Verurteilung für alle diese Verbrechen und behandelt uns nicht als solche, die fremdes Gut innehaben, sondern rechnet es als unser eigenes an und verspricht, uns nicht bloß das Zehnfache, sondern das Hundertfältige zu geben von dem, was wir freudig an die Brüder verteilen (s. Mk 10,30; 2 Kor 9,7 / Spr 22,8).
«Freudig» aber bedeutet, dass einer diese Dinge nicht als sein Eigentum betrachtet, sondern als ihm von Gott mit dem Zweck anvertraut, sie seinen Mitknechten zugute kommen zu lassen. Es bedeutet, dass er sie reichlich verteilt, mit Freude und Großzügigkeit, nicht mit Bedauern oder notgedrungen (s. 2 Kor 9,7). Schließlich bedeutet es auch, dass wir unsere Vorratskammern mit Freude leeren in der Hoffnung auf die wahre Verheißung, die Gott uns verheißen hat, nämlich dass Er uns das Hundertfältige vergelten werde dafür. Denn da Gott weiß, dass wir allesamt beherrscht sind von der Begierde nach Besitz und der Sucht nach Reichtum und hartnäckig an diesen hangen, sodass jene, denen es auf irgendeine Weise mangelt daran, sogar noch ihr eigenes Leben aufgeben, setzte Er die geeignete Arznei ein, nämlich das Versprechen, uns für das, was wir von den angehäuften Gütern abgeben an die Bedürftigen, wie gesagt das Hundertfältige zu vergelten. Dies tat Er zuallererst, damit wir vom Schuldspruch der Habgier erlöst würden, sodann damit wir aufhörten, unsere Befriedigung an diesen Dingen zu finden und unsere Hoffnung auf sie zu setzen, und damit unsere Herzen befreit werden möchten von der Fesselung an sie, sodass wir, frei geworden, unbehindert auf dem Weg Seiner Gebote wandern könnten und Ihm dienen mit Furcht und Zittern – nicht etwa, als machten wir Ihm damit ein Geschenk, sind doch wir selbst die Nutznießer solchen Dienens.
Einen anderen Weg für unsere Rettung gibt es nicht. Die Reichen sind gerufen, zuerst ihren Besitz abzulegen, als eine Bürde, die sie hindert an einem gottgemässen Leben, und sodann ihr Kreuz auf sich zu nehmen und dem Gebieter auf dem Fuß zu folgen (Mt 19,16ff). Denn beides zu tragen ist uns absolut unmöglich.
Was aber jene betrifft, die frei sind von dieser Bürde und mit dem Lebensnotwendigen auskommen oder auch mit weniger als diesem, so haben sie nichts, was sie hindern könnte, dem schmalen und mühseligen Pfad zu folgen (s. Mt 7,14), so sie dies wollen.
Die ersteren bedürfen hierzu ihres eigenen Entschlusses, während sich die letzteren von alleine auf diesem Pfad befinden, weshalb sie mit Geduld und Danksagung auf diesem voranschreiten sollen. Und Gott, Der gerecht ist, wird dafür sorgen, dass die auf diese Weise Voranschreitenden das Endziel des ewigen Lebens und der ewigen Erquickung erreichen.
Nach dem Verteilen der Güter, das Schultern des Kreuzes -
geduldiges Ertragen der Prüfungen
10. Wenn allerdings jemand zwar Güter und Vermögen verteilt, jedoch nicht gewillt ist, sich den nachfolgenden Prüfungen und Bedrängnissen mit Tapferkeit zu stellen, so erachte ich das als Zeichen einer kleinmütigen Seele, die sich nicht bewußt ist, welchen Nutzen ihr diese Dinge bringen.
Denn so wie man das Gold, das tief von Rost zerfressen ist (s. Iak 5,3), nicht anders reinigen und in seinem früheren Glanz wiederherstellen kann als dadurch, dass man es ins Feuer wirft und wiederholt behämmert, so auch kann die Seele, die tief zerfressen ist vom Rost der Sünde und unnütz geworden ist, nur dadurch gereinigt und in ihrer ursprünglichen Schönheit wiederhergestellt werden, dass sie mannigfache Prüfungen durchsteht und in den Schmelztiegel der Bedrängnisse kommt (s. Weish 3,6).
Dies zeigt auch das Wort des Herrn Selbst, da Er sagt: «Verkauf, was du hast, und gib es den Armen, dann nimm dein Kreuz auf dich und folge Mir nach» (Mt 19,21, s. auch Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23), wobei Er mit «Kreuz» die Prüfungen und Bedrängnisse meint.
Die Entledigung von Gütern und Vermögen an sich allein bringt denen, die sich ihrer entledigen und sich dem Mönchsleben zuwenden, keinerlei Gewinn, wenn sie dazu nicht auch die Prüfungen und Bedrängnisse und die Gott gemäße Trauer (2 Kor 7,10; s.a. Mt 5,4) bis ans Ende mit Geduld ertragen. Denn Christus hat nicht gesagt: «Durch das Weggeben eurer Habe werdet ihr eure Seelen gewinnen», sondern: «durch eure Geduld» (Lk 21,19).
Dass sowohl das Verteilen der Güter an die Armen als auch der Auszug aus der Welt gut und nützlich ist, liegt auf der Hand, doch an sich allein, ohne das geduldige Ertragen der Prüfungen, vermögen sie den Menschen nicht vollkommen im Sinne Gottes zu machen. Und dass es sich tatsächlich so verhält und von Gott so verfügt worden ist, das ersieh aus jenen bereits zitierten Worten, die Er zum Reichen sprach: «Willst du vollkommen sein, so verkauf, was du hast, und gib es den Armen, dann nimm dein Kreuz auf dich und komm und folge Mir nach» (Mt 19,21), wobei Er mit «Kreuz», wie gesagt, die Bedrängnisse und die Prüfungen meint.
11. Denn da das Reich der Himmel mit Gewalt errungen wird und Gewaltsame es ergreifen (Mt 11,12), und da keiner der Gläubigen eingehen kann in dasselbe außer durch den schmalen Pfad der Prüfungen und Bedrängnisse (s. Mt 7,14; Apg 14,22), gebietet uns das Wort Gottes zu Recht: «Kämpft, um hineinzukommen durch das enge Tor» (Lk 13,24, s.a. Mt 7,13), und: «Durch eure Geduld werdet ihr eure Seelen gewinnen» (Lk 21,19), und: Durch viele Bedrängnisse müßt ihr gehen, um hineinzukommen in das Reich der Himmel (Apg 14,22).
Verteilt aber einer seine Habe an die Bedürftigen und zieht sich zurück aus der Welt und aus ihren Angelegenheiten in der Erwartung auf den Lohn, bringt er mit seiner großen Selbstzufriedenheit sein Gewissen zum Verstummen, sodass ihm dieser Lohn oftmals geraubt wird von der Eitelkeit. Jener hingegen, der dem Weggeben all seiner Habe an die Armen das geduldige Ertragen der Bedrängnisse unter Danksagung seiner Seele sowie die Standhaftig-keit in den Plagen hinzufügt, der empfindet zwar die ganze Bitterkeit und den ganzen Schmerz derselben, bewahrt aber seinen Geist unversehrt im gegenwärtigen Leben und wird großen Lohn empfangen im künftigen, als einer, der Christus nachgefolgt ist in Seinen Leiden und unverrückt Seiner geharrt hat auch in Zeiten der Prüfung und der Drangsal.
Ermahnung zum Ablegen der fleischlichen Gesinnung
Ermahnung zum Ablegen der fleischlichen Gesinnung
12. Deshalb bitte ich euch, Brüder in Christus, bemühen wir uns, wir, die wir die Welt und alles, was in ihr ist, verlassen haben, dem Wort unseres Herrn und Gottes und Erlösers Jesus Christus gemäßhineinzukommen durch das enge Tor (Mt 7,13), welches das Ablegen und Meiden unserer fleischlichen Gesinnung und unseres fleischlichen Willens ist. Denn ohne das Abtöten des Fleisches mitsamt seinen Begierden (s. Gal 5,24) und seinem Wollen ist es unmöglich, die Befriedung, Erlösung von den Übeln und Freiheit zu erlangen, die uns aus der Tröstung des Heiligen Geistes erwächst. Und ohne dieselbe – ich meine das Kommen des Heiligen Geistes – wird keiner den Herrn schauen, weder im jetzigen Äon, noch im künftigen (s. Hebr 12,14).
Dass du gut daran tatest, deine Habe an die Bedürftigen zu verteilen – sofern du nicht irgendetwas zurückbehieltest für dich selbst wie jener Ananias (s. Apg 5,1ff) – und überdies die Welt mit allem, was in ihr ist, zu verlassen und das irdische Sorgen abzulegen, hinzueilen zum Hafen des Lebens und dich zu umwanden mit dem äußeren Zeichen der Gottesfurcht, das anerkenne auch ich und lobe dein Tun. Doch nun mußt du zudem die fleischliche Gesinnung ablegen, so wie vor kurzem die weltlichen Gewänder, und in Übereinstimmung mit dem Mönchsgewand, das du um Christi willen angelegt hast, auch die Weisen der Seele und die geistige Gesinnung selbst erwerben. Und nicht nur dies, sondern du mußt fernerhin das lichte Gewand der Metanie anlegen, welches nichts anderes ist als der Heilige Geist Selbst. Dies aber kommt auf keine andere Weise zustand als durch das beharrliche Üben der Tugenden und das Ertragen der Bedrängnisse. Denn bedrängt durch die Prüfungen, wird die Seele zu Tränen bewegt, diese Tränen aber reinigen das Herz und machen es zum Tempel und zur Wohnstatt des Heiligen Geistes. Zu unserer Rettung und Vollkommenheit genügt es nämlich nicht, bloß das Mönchsgewand anzulegen und den äußeren Menschen zu schmücken, sondern es ist nötig, so wie diesen auch den inneren Menschen zu schmücken, mit dem Gewand des Heiligen Geistes, und uns selbst zur Gänze, Leib und Seele, Gott zum Opfer darzubringen.
Mit den körperlichen Übungen einerseits müssen wir den Körper ertüchtigen zum Ertragen der Mühen der Tugend, damit er sich, ohne schwach zu werden, an die Gott gemäßen Betrübnisse gewöhne und tapfer die Bitterkeit des Fastens, den Zwang der Enthaltsamkeit, die Plage der Nachtwache hinnehme, ebenso wie jedwelche andere Mühsal.
Mit der Gottesfurcht andererseits, die uns der Heilige Geist gibt, müssen wir die Seele dazu erziehen, zu sinnen, was zu sinnen recht ist (s. Röm 12,3), und sich immerdar zu beschäftigen mit den Dingen des ewigen Lebens, demütig und sanftmütig zu sein, reumütig und ergriffen, erfüllt von Trauer allezeit, und mit dem Gebet das Licht des Heiligen Geistes herabzurufen, was ihr gewöhnlich auf Grund glühendster Metanie gewährt wird, nachdem die Seele geläutert worden ist durch viele Tränen, ohne welche weder ihr Gewand je gereinigt werden kann, noch sie selbst je die Höhe der Gottesschau zu erklimmen vermag.
Denn so wie ein Kleid, das durch und durch verschmutzt ist mit Schlamm und Kot, auf keine andere Weise gereinigt werden kann als durch Spülen mit viel Wasser und durch kräftiges Treten mit den Füssen, so auch kann das Gewand der Seele, das verschmutzt wurde durch den Schlamm und Kot der sündigen Leidenschaften, auf keine andere Weise gereinigt werden als durch viele Tränen und das geduldige Ertragen der Prüfungen und Bedrängnisse. Zwei Arten nämlich von Ausflüssen unseres Körpers gibt es im Wesentlichen – ich meine den oberen der Tränen und den unteren der Genitalien –, und während die Seele verunreinigt wird vom einen, der auf widernatürliche und widergesetzliche Art ausfließt, wird sie gereinigt vom anderen, der aus der Reue fließt. Deshalb müssen diejenigen, die ihre Seele verunreinigt haben durch sündiges Tun und leidenschaftliche Bewegungen des Herzens, womit sie derselben Eindrücke widersinniger Begierden einprägten, sich mit vielen Tränen reinwaschen, damit das Gewand der Seele höchste Reinheit erlangt. Unterbleibt dies, ist es unmöglich, Gott zu schauen, jenes Licht, Welches das Herz jedes Menschen erleuchtet, der durch die Metanie zu Ihm kommt, können doch nur jene, die reinen Herzens sind, Gott schauen (Mt 5,8).
Aufstieg ins Licht
13. Bemühen wir uns daher, ich bitte euch, meine Väter und Brüder und Kinder, ein reines Herz zu erwerben, indem wir sorgfältig wachen über unsere Lebensführung und ständig die verborgenen Gedanken der Seele bekennen. Denn das ständige, tägliche Bekennen derselben, aus bedauerndem Herzen, wirkt in uns Reue über das, was wir getan haben oder auch nur mit dem Gedanken spielten, es zu tun. Und diese Reue wird Tränen aufsteigen lassen aus der Tiefe unserer Seele. Die Tränen aber reinigen das Herz und löschen große Sünden aus. Und indem dieselben ausgelöscht werden durch die Tränen, empfängt die Seele die Tröstung des Heiligen Geistes und wird begossen mit den Wassern der süßen Ergriffenheit.[6] Und indem sie tagtäglich noetisch gedüngt wird von diesen, treibt sie allmählich die Früchte des Heiligen Geistes aus (s. Gal 5,22), um sie zur Zeit der Reife, vollen Ähren gleich, darzubringen zur unerschöpflichen Ernährung der Seele und zu ihrem unverweslichen und ewigen Leben.
Ist sie durch ihr unentwegtes Bemühen soweit gekommen, erwirbt sie Vertrautheit mit Gott und wird Tempel und Wohnstatt der Göttlichen Dreiheit. Nun schaut sie mit aller Deutlichkeit ihren Schöpfer und Gott, und indem sie Zwiesprache hält mit Ihm allezeit, wird sie entrückt aus dem Leib, aus dieser Welt und aus dieser Luft, und steigt auf in die Himmel der Himmel (s. Ps 148,4), leicht geworden durch die Tugenden und getragen von den Flügeln der Gottesliebe, und ruht aus von ihren Kämpfen zusammen mit allen Gerechten und geht ein in das unendliche göttliche Licht, wo die Ränge der Apostel Christi, der Martyrer, der heiligen Mönche und aller himmlischen Heerscharen in gemeinsamem Reigen kreisen.
14. Nach jenem Zustand laßt auch uns streben, Brüder in Christus, damit wir nicht zurückbleiben hinter unseren heiligen Vätern, sondern durch unser Bemühen um das Gute und das Halten der Gebote Christi hingelangen zum vollkommenen Menschen, zum vollen Maß der Fülle Christi (Eph 4,13).
Denn es gibt nichts, was uns daran hindern könnte, wenn wir es nur wollen. So werden wir Gott verherrlichen in uns selbst, und Gott Seinerseits wird Sich freuen an uns. Und bei unserem Auszug aus diesem gegenwärtigen Dasein werden wir Gott finden, Der uns aufnehmen wird wie ein großerSchoß Abrahams (s. Lk 16,22) und uns erquicken wird im Reich der Himmel. Dies möge uns allen zuteil werden durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, Dem die Herrlichkeit gehört in die Ewen. Amen.
Quelle: www.prodromos-verlag.de
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