In Unterhaltungen mit Christen aus anderen Traditionen kommt es oft vor, dass ich die orthodoxe Sichtweise von Sünde erklären muss. Für die meisten westlichen Christen ist Sünde eine Angelegenheit, wo jemand Schlechtes tut, dadurch eine Schuld gegenüber Gott schafft, und diese Schuld muss irgendjemand bezahlen. Sie glauben, dass Jesus die Schuld für unsere Sünden am Kreuz bezahlt hat - den Vater bezahlt hat, so dass wir nicht länger die Strafe tragen würden. Die hauptsächliche Debatte zwischen Protestanten und Katholiken dreht sich darum ob „Jesus alles bezahlt hat" (wie die Protestanten sagen würden), oder ob, obwohl das Kreuz ausreicht, die Menschen dennoch (wie die Katholiken sagen würden) verpflichtet sind, ihre eigenen Opfer auch noch hinzuzufügen.
Die Orthodoxen haben natürlich ein vollständig anderes Verständnis vom rettenden Werk Christi. Wir halten an der Sichtweise der frühen Kirche fest, dass „Gott in Christus war und die Welt mit sich versöhnte." Unsere Sünden machten uns zu Gefangenen des Todes, und Gott ging in Christus in den Hades hinein um uns zu befreien. Die Strafe für Sünde ist nicht eine Schuld, die wir dem Vater schulden; sie ist der Seelentod, der die unmittelbare und unvermeidliche Konsequenz der Sünde ist. Wir brauchen Heilung und Rettung, nicht jemanden, der für unsere Rechnung einspringt. Die frühen Christen sahen den Vater immer als jemanden, der dem Sünder folgt und ihn liebt; er tat alles um uns zurückzubringen, er wartete nicht mit verschränkten Armen darauf, dass eine Schuld bezahlt wird. Als der Verlorene Sohn nach Hause kam, sagte der Vater nicht: „Ich würde dich ja gern wieder aufnehmen, aber wer bezahlt diese Kreditkartenrechnung?"
So war die allgemeine Sichtweise während der ersten tausend Jahre des Christentums, bis Anselm, Erzbischof von Canterbury um die Zeit des Großen Schismas, eine alternative Sichtweise anbot. Anselm glaubte, dass Gott uns nicht einfach vergeben könne, da unsere Sünden ein objektives Übel im Universum darstellten. Dieses könne nicht richtig gestellt werden ohne Bezahlung. Kein Mensch könne so eine riesige Schuld bezahlen, aber Jesu Blut war mehr als ausreichend um sie zu bezahlen, wodurch Jesus ein „Anspruch" an Gott den Vater gegeben wurde. „Wenn der Sohn wählte, den Anspruch, den er an Gott hatte, dem Menschen zu übertragen, konnte der Vater ihm das billigerweise verbieten, oder dem Menschen verweigern, was der Sohn ihm geben wollte?"
Wir würden sagen, dass die westlichen Christen, Protestanten und Katholiken, zwei Konzepte der Heiligen Schrift verwechselt haben: „Opfer/Opfergabe" und „Lösegeld/Bezahlung". Jesus konnte kein „Lösegeld“ für unsere Sünden an den Vater zahlen: Lösegeld zahlt man an einen Entführer, und der Vater hielt uns nicht in Geiselhaft. Nein, es war der Böse der uns eingefangen hatte, dank unser freiwilligen Beteiligung an der Sünde. Es kostete Jesus sein Blut, den Hades zu betreten und uns zu befreien. Das ist die Bezahlung, oder das Lösegeld, aber es wird offensichtlich nicht „an“ den Vater bezahlt. Dennoch ist es ein Opfer an den Vater, so wie ein tapferer Soldat eine gefährliche, mutige Tat seinem von ihm geliebten General opfern könnte.
Wenn Sie mir noch folgen können, würde ich gerne noch einen Schritt weiter gehen.
Wie ich sagte, ich führe dieses Gespräch oft mit anderen Christen, und betone, dass Sünde nicht ein Regelverstoß, sondern eine ansteckende Krankheit ist [not infraction but infection]; Sünde macht uns krank. Das christliche Leben ist ein Leben der Heilung und Wiederherstellung; es geht nicht einfach darum, dass eine Schuld bezahlt wird.
Kürzlich ging mir auf, dass dieser Unterschied zwischen westlichem und östlichem Christentum noch etwas anderes erklärt, das ich bisher nicht bemerkt hatte, nämlich dass die Orthodoxie nicht viel Zeit damit verbringt, sich über das „Problem des Bösen" zu sorgen. Die Frage, warum böse Dinge geschehen, ist im Westen eine Hauptfrage; sie scheint die Behauptung zu widerlegen, dass Gott gut ist und uns liebt. Wenn er allmächtig ist und uns vollkommen liebt, warum lässt er zu, dass böse Dinge geschehen? Ich nehme an, dieses im Hintergrund noch schwebende Bild eines Gottes, der nur zögerlich vergibt, der auf eine Bezahlung wartet, nährt den Verdacht, dass er uns vielleicht nicht wirklich liebt.
Ich denke, die orthodoxe Sichtweise der Sünde als Krankheit statt als Regelbruch beantwortet dies. Das Böse ist in der Welt wegen der „Umweltverschmutzung" durch unsere Sünden. Unsere Selbstsucht und Grausamkeit verletzen nicht einfach nur die um uns herum, sondern tragen dazu bei, die Welt aus der Balance zu bringen, aus dem Takt zu bringen. Die Sünde ist gemeinschaftlicher Natur. Jeder kann beobachten, dass das Leben nicht fair ist; böse Dinge passieren mit „guten" Menschen. Aber selbst gute Menschen steuern etwas Sünde in die Mischung bei, und wir alle erleiden die Folgen der gegenseitigen Sünde der Welt.
Der Radiokomiker Garrison Keillor benutzte ein Bild dafür, das mir immer im Gedächtnis geblieben ist. Er erzählte eine Geschichte über einen Mann, der Ehebruch erwog, der dann darüber nachsann, wie eine betrügerische Tat eine ganze Gemeinde aus der Balance bringen kann: „Ich sah, dass wir alle voneinander abhängig sind. Ich sah, dass, auch wenn meine Sünden geheim bleiben könnten, sie nicht geheimer sein würden als ein Erdbeben. Alle diese Häuser und alle diese Familien, meine Untreue wird sie irgendwie erschüttern. Sie wird das Trinkwasser vergiften. Sie wird Giftgas aus den Ventilatoren in der Grundschule aufsteigen lassen. Wenn wir in sinnlosem Zorn brüllen, schüttet einige Häuserblocks entfernt ein kleines Mädchen, dass wir nicht kennen, eine Schüssel voll Bratensoße quer über ein weißes Tischtuch."
Was wir Orthodoxen im Gedächtnis behalten, und was westliche Christen oft vergessen, ist, dass der Böse zugegen ist. In Anselms Theorie der Erlösung kommt kein Teufel vor.
Die ganze Transaktion spielt sich zwischen uns, dem Vater und Jesus ab. (Und wenn der Teufel ignoriert wird, hat er seinen großen Tag.) Aber die Orthodoxen wissen, wer unser wahrer Feind ist, und wir halten fest am Herrn Jesus als unserem Befreier. Wenn wir Böses in der Welt sehen, wissen wir sofort, dass „ein Feind das getan hat" (Mt 13,28). Wir sind nicht überrascht, dass das Leben unfair ist, und dass „gute" Menschen leiden; wenn wir unschuldiges Leiden sehen, dann wissen wir, dass unsere Sünden dabei geholfen haben, es zu verursachen, indem sie geholfen haben, die Welt aus der Balance zu bringen und ein Klima der Ungerechtigkeit möglich zu machen. Der Böse liebt es, die Unschuldigen leiden zu sehen; und dass solche Ereignisse uns traurig und bestürzt machen, erfreut ihn um so mehr. Dies ist in der Tat eine der Weisen, wie wir die Last unserer Sünden tragen: dass wir den zerreißenden Schmerz fühlen müssen, die Unschuldigen leiden zu sehen, und dabei wissen, dass wir geholfen haben, es zu bewirken. Die westlichen Christen, auf der anderen Seite, die die Sünde als eine private Schuldsache zwischen einem Individuum und Gott sehen, und vergessen, dass der Böse zugegen ist, können nicht verstehen, wie Gott einen Unschuldigen leiden lassen könnte, und es bleibt ihnen der eisige Gedanke, die Güte Gottes in Frage zu stellen.
„Wer wird mich aus diesem Todesleib erretten? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!" (Röm. 7,24-25). Wir trauen nicht unserer eigene Stärke, aus diesem Schlamassel herauszukommen, sondern verlassen uns ganz auf die Macht Jesu Christi, der „durch den Tod den Tod niedergetreten" hat (Osterhymnus). Indem wir jeden Tag in der Gnade wachsen, können wir zur Heilung der Welt beitragen, indem wir unseren Feinden vergeben, die lieben, die uns hassen, und das Böse durch das Gute überwinden.
Die erste Stelle, wo es überwunden werden muss, ist, wie wir wissen, in unseren Herzen.
Orthodoxie Aktuell, Jahrgang 2009, Heft 06-07
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