"Praxis und theoria"
In den Lehren der Heiligen Väter werden die drei
Stadien des geistlichen Leben mittels der Begriffe „praxis“ und
„theoria“ charakterisiert. Ich denke, auch wir sollten uns mit diesem
Thema befassen, um klarer zu verstehen, was mit Reue und Reinigung des
Herzens gemeint ist, und um andererseits die Mißinterpretation der
Begriffe „praxis“ und „theoria“ in der heutigen Zeit zu berichtigen.
Wenn wir Texte der Heiligen Väter lesen, sehen viele
Menschen diese Begriffe, ohne sich ihrer tieferen Bedeutung bewußt zu
sein. Sie interpretieren sie innerhalb der Perspektive des westlichen
Denkens: „Theoria“ wird als spekulativ begriffen, basierend auf Theorie
und nicht auf der Praxis, mit anderen Worten: Sie befasse sich auf
theoretische Weise mit logischen Schlußfolgerungen. Hingegen wird unter
„praxis“ die Lehre und Anwendung dieser intellektuellen Konzepte
verstanden. Wieder andere sehen in „theoria“ die Widerspiegelung
göttlicher Dinge, und unter „praxis“ verstehen sie missionarische
Unternehmungen, d. h. die Unterweisung dieser rationalen Konzepte.
In der heiligväterlichen Tradition haben die
Begriffe „praxis“ und „theoria“ jedoch andere Bedeutungen, worauf wir in
den folgenden Passagen kurz zu sprechen kommen.
Der hl. Gregor der Theologe sagt, daß theoria und
praxis von großem Nutzen seien, denn die theoria erhebe den nous des
Menschen über irdische Dinge; sie führe ihn zum Allerheiligsten und
richte ihn wieder in seiner ursprünglichen Natur auf; während die praxis
Christus empfinge und Ihm diene und die Liebe mit Taten prüfe. Ganz
klar ist theoria die Schau Gottes – die Wiederherstellung des nous und
die Rückkehr zu Gott; praxis ist die Summe aller Handlungen, die zu
dieser Liebe führen.
In einem anderen Text bezieht sich der hl. Gregor
der Theologe auf die letzte und schrecklichste der sieben Plagen der
Ägypter – den Tod ihrer erstgeborenen Kinder – und stellt fest, daß der
Mensch, um dem Todesengel zu entgehen, die Wächter seines nous – praxis
und theoria – mit dem Blut Christi salben müsse. Somit sind praxis und
theoria mit dem nous verbunden. Es sind die Wächter des nous, und sie
werden geheilt durch das Blut Christi. Und dies ist gewiß unsere
Identifikation mit und Partizipation an Christi Kreuzigung, Begräbnis,
Auferstehung und Himmelfahrt.
In der gesamten heiligväterlichen Tradition ist
klar, daß praxis die Reinigung der Leidenschaften des Herzens ist,
während theoria sowohl die Erleuchtung (Illumination) des nous als auch
die Schau der ungeschaffenen Herrlichkeit Gottes darstellt. Gemäß dem
hl. Gregor dem Theologen ist praxis die Voraussetzung der theoria. Gemäß
dem Altvater Elias ist praxis Fasten und Nachtwachen; Psalmengesang und
Gebet und eine Stille, die kostbarer ist als Worte; auch ist praxis
alles, was geduldig getan wird, ohne zu klagen. Der hl. Isaak der Syrer
sagt, daß theoria die Schau des nous sei. Es muß natürlich festgehalten
werden, daß es keine von theoria unabhängige praxis gibt, noch existiert
theoria unabhängig von praxis. Das bedeutet, daß der Mensch zur theoria
Gottes durch Reinigung (Purifikation) geführt wird; und wenn die
theoria aufhört, beginnt wieder die praxis.
Der hl. Gregor Palamas geht analytischer vor in
bezug auf die Thematik von praxis und theoria. Er lehrt, daß die theoria
Gottes nichts anderes sei als die Schau Gottes. Daher sei theoria nicht
Spekulation über das, was gesagt oder was gesehen wurde, sondern die
Schau Gottes selbst. Wenn dies in der Tat theoria ist, folgt daraus, daß
praxis nichts anderes ist als die Reinigung des Herzens und die Reue
(Buße), also die vollständige hesychastische Lebensweise – die
Ausbildung in der hesychia. Somit ist gemäß dem hl. Gregor Palamas die
praxis gleichgesetzt mit dem hesychastischen Weg, einer Methode des
Gebets (heilige Stille), die die Stille des nous erfordert, das Anhalten
der Welt und das Vergessen der irdischen Dinge. Es ist eine Initiation
in die Dinge der Höhe und das Beiseitelegen aller Vorstellungen über das
„Gutsein“. Durch die praxis – die heilige hesychia – „werden wir vom
Weltlichen befreit und richten uns aus auf Gott“. Dies ist der Pfad und
die Art und Weise des Aufstiegs zu Gott, welcher der Allheiligsten
Mutter Gottes folgt. Sie erlangte die theosis und wurde zur Mutter des
Wortes Gottes.
Praxis ist daher die Reinigung des Herzens; daraus
besteht die authentische Reue und Buße, wie sie vom hl. Johannes dem
Täufer verkündet wurde, von Christus Selbst und natürlich von all Seinen
Aposteln, denn Reue ist die unerläßliche Voraussetzung, um zur
Erfahrung des Reiches Gottes zu gelangen.
Daher ist die Reinigung – d.h. die Läuterung
unserer inneren Welt – das erste Stadium des geistlichen Lebens, welches
wir durchlaufen müssen, um die Rettung zu erlangen.
Im folgenden muß geklärt werden, was die Heiligen
Väter unter „Reinigung des Herzens“ verstehen. Sie haben hauptsächlich
drei Dinge dabei im Sinn.
Erstens ist Reinigung (Purifikation) des Herzens die
Heilung der Fähigkeiten der Seele, damit sie in Übereinstimmung mit der
Natur und oberhalb der Natur tätig sind. Die Seele des Menschen ist
sowohl eine Einheit als auch mannigfaltig. Sie hat primär drei
Fähigkeiten: die Denkfähigkeit, das Begehren und die Erregbarkeit [d. h.
das „Zürnen und Wollen“]. Alle drei Fähigkeiten sind, wenn sie normal
funktionieren, auf Gott hin ausgerichtet. Das Denkvermögen sucht Gott;
das Begehren verlangt nach Gott, und der Wille muß alles tun, um die
Gemeinschaft und Einheit mit Gott zu erlangen.
Zweitens ist Reinigung (Purifikation) die Befreiung
des Menschen von Genuß und Schmerz, mit anderen Worten, es ist die
Befreiung des Menschen von der Unterdrückung, die Genuß und Schmerz auf
ihn ausüben. Wenn der Mensch gereinigt ist, ist er frei von ihrer
Vorherrschaft. Nun sind es die geistlichen Freuden, die sich vor allem
in ihm einfinden; und er wird nicht niedergeschlagen oder belastet, wenn
ihm verschiedene Menschen oder Probleme im Leben Schmerz bereiten.
Drittens ist Reinigung (Purifikation) die Reinigung
des Herzens von den verschiedenen Gedanken-Logismoi, die darin
existieren. Sie werden logismoi genannt, denn sie müssen im Verstand
wohnen und nicht im Herzen. Was bedeutet das? Wenn ein „logismos“ kommt
und der Mensch nicht genügend aufmerksam ist, wird daraus ein Begehren,
das erfüllt, d. h. verwirklicht, werden will. Das bedeutet, daß der
Logismos aus der intelligiblen Fähigkeit der Seele [dem Denkvermögen]
hervorgeht und zum Empfindungsvermögen überwechselt, d. h. zum Begehren
und Wollen. Wenn der Logismos in die Tat umgesetzt wird und sich zu
einer Leidenschaft entwickelt, gelangt er ins Herz und verweilt dort mit
großer Macht.
Die Väter sagen, daß das Herz von logismoi gereinigt
werden kann durch Reue und mittels der asketischen Methode der Kirche.
Und die asketische Methode ist durch die göttliche Gnade inspiriert. Ein
einfacher Gedanke kann in den Verstand eindringen, doch nicht weiter
ins Herz vorstoßen. Wenn alle logismoi entfernt sind und das Herz
gereinigt ist, herrscht dort nur noch das Ein-Wort-Gebet vor. Aus diesem
Grund wird das Gebet „Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner“9 das
Ein-Wort-Gebet genannt. Daher verhilft das einfache Erinnern [Gottes] im
Herzen dazu, das unablässige Gebet wiederzuerlangen, während der
Verstand die sogenannten einfachen logismoi denkt – die einfachen
Begriffe von Dingen, losgelöst von Leidenschaft.
Diese drei Stadien bilden das, was die Väter die
Reinigung des Herzens nennen. Wenn das Herz eines Menschen gereinigt
ist, wird dieser umgänglicher, ausgeglichener. Er verhält sich in der
Gesellschaft auf richtige Weise, da seine Selbstsucht der Liebe zu Gott
und der Liebe zu den Menschen gewichen ist. Selbstsüchtige Liebe wird
in selbstlose verwandelt. Zuvor liebte er selbstsüchtig, mit einer
Liebe, die das ihre suchte. Nun jedoch liebt er mit einer reinen Liebe:
Er liebt andere, ohne irgend etwas dafür im Gegenzug zu erwarten. Er
liebt unabhängig davon, ob andere ihn lieben. Er sucht nicht das seine
in seinen Handlungen. Wenn daher selbstsüchtige Liebe in selbstlose
Liebe verwandelt ist, spricht man davon, daß die Person zu einem
wirklichen Menschen geworden ist. Und genau darum handelt es sich bei
dieser Wandlung, die als die Heilung des Menschen betrachtet wird.
In der heiligväterlichen Tradition wird praxis auch
als Ethik (Moral) bezeichnet. Der hl. Gregor Palamas spricht von Ethik
in seinen Texten, in denen er die Thematik der Reinigung des Herzens
entwickelt. Darin wird der ganze Verlauf des Heilungsprozesses des
Menschen beschrieben. In der orthodoxen Tradition ist Ethik keine
abstrakte Bedingung oder ein pharisäisches äußeres Verhalten; sondern –
Askese. Wenn daher die Väter von Ethik (Moral) sprechen, meinen sie
Askese. Und da Askese für den Menschen der Übergang von der Unreinheit
des nous zu seiner Reinigung und Erleuchtung ist, ist die orthodoxe
Ethik daher die Reinigung (Purifikation) des Menschen.
Wenn praxis in der heiligväterlichen Tradition die
Reinigung des Herzens ist, dann ist theoria einerseits die Erleuchtung
des nous und andererseits die Schau des ungeschaffenen Lichtes. So wird
in der Lehre des hl. Gregor Palamas deutlich, daß die theoria Gottes die
Vereinigung des Menschen mit Gott ist. Sie wird durch Vergöttlichung
(theosis) bewirkt und schenkt dem Menschen die Erkenntnis Gottes.
Theoria – Vereinigung – theosis und Erkenntnis Gottes sind in der
heiligväterlichen Tradition synonym.
Dies also ist der Pfad, der zur Heilung des Menschen
führt. Genauso wie jede Wissenschaft eine besondere Vorgehensweise
besitzt, um den Menschen zur Erkenntnis zu führen, so hat auch die
Kirche eine Methode, um den Menschen zu Gott zu führen. Und diese
Methode besteht in der Reinigung des Herzens, der Erleuchtung des nous
und der Vergöttlichung (theosis) – und wird auch genannt: praxis und
theoria.
Aus: Der Schmale Pfad, Band 7 März/April 2004, Kapitel aus dem Werk Orthodox Spirituality von Metropolit Hierotheos