Donnerstag, 14. Juli 2016

Praxis und Theorie im Orthodoxen Glauben - Metropolit Hierotheos Vlachos


"Praxis und theoria"

In den Lehren der Heiligen Väter werden die drei Stadien des geistlichen Leben mittels der Begriffe „praxis“ und „theoria“ charakterisiert. Ich denke, auch wir sollten uns mit diesem Thema befassen, um klarer zu verstehen, was mit Reue und Reinigung des Herzens gemeint ist, und um andererseits die Mißinterpretation der Begriffe „praxis“ und „theoria“ in der heutigen Zeit zu berichtigen.
Wenn wir Texte der Heiligen Väter lesen, sehen viele Menschen diese Begriffe, ohne sich ihrer tieferen Bedeutung bewußt zu sein. Sie interpretieren sie innerhalb der Perspektive des westlichen Denkens: „Theoria“ wird als spekulativ begriffen, basierend auf Theorie und nicht auf der Praxis, mit anderen Worten: Sie befasse sich auf theoretische Weise mit logischen Schlußfolgerungen. Hingegen wird unter „praxis“ die Lehre und Anwendung dieser intellektuellen Konzepte verstanden. Wieder andere sehen in „theoria“ die Widerspiegelung göttlicher Dinge, und unter „praxis“ verstehen sie missionarische Unternehmungen, d. h. die Unterweisung dieser rationalen Konzepte. 

In der heiligväterlichen Tradition haben die Begriffe „praxis“ und „theoria“ jedoch andere Bedeutungen, worauf wir in den folgenden Passagen kurz zu sprechen kommen.
Der hl. Gregor der Theologe sagt, daß theoria und praxis von großem Nutzen seien, denn die theoria erhebe den nous des Menschen über irdische Dinge; sie führe ihn zum Allerheiligsten und richte ihn wieder in seiner ursprünglichen Natur auf; während die praxis Christus empfinge und Ihm diene und die Liebe mit Taten prüfe. Ganz klar ist theoria die Schau Gottes – die Wiederherstellung des nous und die Rückkehr zu Gott; praxis ist die Summe aller Handlungen, die zu dieser Liebe führen.
In einem anderen Text bezieht sich der hl. Gregor der Theologe auf die letzte und schrecklichste der sieben Plagen der Ägypter – den Tod ihrer erstgeborenen Kinder – und stellt fest, daß der Mensch, um dem Todesengel zu entgehen, die Wächter seines nous – praxis und theoria – mit dem Blut Christi salben müsse. Somit sind praxis und theoria mit dem nous verbunden. Es sind die Wächter des nous, und sie werden geheilt durch das Blut Christi. Und dies ist gewiß unsere Identifikation mit und Partizipation an Christi Kreuzigung, Begräbnis, Auferstehung und Himmelfahrt.
In der gesamten heiligväterlichen Tradition ist klar, daß praxis die Reinigung der Leidenschaften des Herzens ist, während theoria sowohl die Erleuchtung (Illumination) des nous als auch die Schau der ungeschaffenen Herrlichkeit Gottes darstellt. Gemäß dem hl. Gregor dem Theologen ist praxis die Voraussetzung der theoria. Gemäß dem Altvater Elias ist praxis Fasten und Nachtwachen; Psalmengesang und Gebet und eine Stille, die kostbarer ist als Worte; auch ist praxis alles, was geduldig getan wird, ohne zu klagen. Der hl. Isaak der Syrer sagt, daß theoria die Schau des nous sei. Es muß natürlich festgehalten werden, daß es keine von theoria unabhängige praxis gibt, noch existiert theoria unabhängig von praxis. Das bedeutet, daß der Mensch zur theoria Gottes durch Reinigung (Purifikation) geführt wird; und wenn die theoria aufhört, beginnt wieder die praxis.
Der hl. Gregor Palamas geht analytischer vor in bezug auf die Thematik von praxis und theoria. Er lehrt, daß die theoria Gottes nichts anderes sei als die Schau Gottes. Daher sei theoria nicht Spekulation über das, was gesagt oder was gesehen wurde, sondern die Schau Gottes selbst. Wenn dies in der Tat theoria ist, folgt daraus, daß praxis nichts anderes ist als die Reinigung des Herzens und die Reue (Buße), also die vollständige hesychastische Lebensweise – die Ausbildung in der hesychia. Somit ist gemäß dem hl. Gregor Palamas die praxis gleichgesetzt mit dem hesychastischen Weg, einer Methode des Gebets (heilige Stille), die die Stille des nous erfordert, das Anhalten der Welt und das Vergessen der irdischen Dinge. Es ist eine Initiation in die Dinge der Höhe und das Beiseitelegen aller Vorstellungen über das „Gutsein“. Durch die praxis – die heilige hesychia – „werden wir vom Weltlichen befreit und richten uns aus auf Gott“. Dies ist der Pfad und die Art und Weise des Aufstiegs zu Gott, welcher der Allheiligsten Mutter Gottes folgt. Sie erlangte die theosis und wurde zur Mutter des Wortes Gottes.
Praxis ist daher die Reinigung des Herzens; daraus besteht die authentische Reue und Buße, wie sie vom hl. Johannes dem Täufer verkündet wurde, von Christus Selbst und natürlich von all Seinen Aposteln, denn Reue ist die unerläßliche Voraussetzung, um zur Erfahrung des Reiches Gottes zu gelangen.
Daher ist die Reinigung – d.h. die Läuterung unserer inneren Welt – das erste Stadium des geistlichen Lebens, welches wir durchlaufen müssen, um die Rettung zu erlangen.
Im folgenden muß geklärt werden, was die Heiligen Väter unter „Reinigung des Herzens“ verstehen. Sie haben hauptsächlich drei Dinge dabei im Sinn.
Erstens ist Reinigung (Purifikation) des Herzens die Heilung der Fähigkeiten der Seele, damit sie in Übereinstimmung mit der Natur und oberhalb der Natur tätig sind. Die Seele des Menschen ist sowohl eine Einheit als auch mannigfaltig. Sie hat primär drei Fähigkeiten: die Denkfähigkeit, das Begehren und die Erregbarkeit [d. h. das „Zürnen und Wollen“]. Alle drei Fähigkeiten sind, wenn sie normal funktionieren, auf Gott hin ausgerichtet. Das Denkvermögen sucht Gott; das Begehren verlangt nach Gott, und der Wille muß alles tun, um die Gemeinschaft und Einheit mit Gott zu erlangen. 

Zweitens ist Reinigung (Purifikation) die Befreiung des Menschen von Genuß und Schmerz, mit anderen Worten, es ist die Befreiung des Menschen von der Unterdrückung, die Genuß und Schmerz auf ihn ausüben. Wenn der Mensch gereinigt ist, ist er frei von ihrer Vorherrschaft. Nun sind es die geistlichen Freuden, die sich vor allem in ihm einfinden; und er wird nicht niedergeschlagen oder belastet, wenn ihm verschiedene Menschen oder Probleme im Leben Schmerz bereiten.
Drittens ist Reinigung (Purifikation) die Reinigung des Herzens von den verschiedenen Gedanken-Logismoi, die darin existieren. Sie werden logismoi genannt, denn sie müssen im Verstand wohnen und nicht im Herzen. Was bedeutet das? Wenn ein „logismos“ kommt und der Mensch nicht genügend aufmerksam ist, wird daraus ein Begehren, das erfüllt, d. h. verwirklicht, werden will. Das bedeutet, daß der Logismos aus der intelligiblen Fähigkeit der Seele [dem Denkvermögen] hervorgeht und zum Empfindungsvermögen überwechselt, d. h. zum Begehren und Wollen. Wenn der Logismos in die Tat umgesetzt wird und sich zu einer Leidenschaft entwickelt, gelangt er ins Herz und verweilt dort mit großer Macht.
Die Väter sagen, daß das Herz von logismoi gereinigt werden kann durch Reue und mittels der asketischen Methode der Kirche. Und die asketische Methode ist durch die göttliche Gnade inspiriert. Ein einfacher Gedanke kann in den Verstand eindringen, doch nicht weiter ins Herz vorstoßen. Wenn alle logismoi entfernt sind und das Herz gereinigt ist, herrscht dort nur noch das Ein-Wort-Gebet vor. Aus diesem Grund wird das Gebet „Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner“9 das Ein-Wort-Gebet genannt. Daher verhilft das einfache Erinnern [Gottes] im Herzen dazu, das unablässige Gebet wiederzuerlangen, während der Verstand die sogenannten einfachen logismoi denkt – die einfachen Begriffe von Dingen, losgelöst von Leidenschaft.
Diese drei Stadien bilden das, was die Väter die Reinigung des Herzens nennen. Wenn das Herz eines Menschen gereinigt ist, wird dieser umgänglicher, ausgeglichener. Er verhält sich in der Gesellschaft auf richtige Weise, da seine Selbstsucht der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen gewichen ist. Selbstsüchtige Liebe wird in selbstlose verwandelt. Zuvor liebte er selbstsüchtig, mit einer Liebe, die das ihre suchte. Nun jedoch liebt er mit einer reinen Liebe: Er liebt andere, ohne irgend etwas dafür im Gegenzug zu erwarten. Er liebt unabhängig davon, ob andere ihn lieben. Er sucht nicht das seine in seinen Handlungen. Wenn daher selbstsüchtige Liebe in selbstlose Liebe verwandelt ist, spricht man davon, daß die Person zu einem wirklichen Menschen geworden ist. Und genau darum handelt es sich bei dieser Wandlung, die als die Heilung des Menschen betrachtet wird.
In der heiligväterlichen Tradition wird praxis auch als Ethik (Moral) bezeichnet. Der hl. Gregor Palamas spricht von Ethik in seinen Texten, in denen er die Thematik der Reinigung des Herzens entwickelt. Darin wird der ganze Verlauf des Heilungsprozesses des Menschen beschrieben. In der orthodoxen Tradition ist Ethik keine abstrakte Bedingung oder ein pharisäisches äußeres Verhalten; sondern – Askese. Wenn daher die Väter von Ethik (Moral) sprechen, meinen sie Askese. Und da Askese für den Menschen der Übergang von der Unreinheit des nous zu seiner Reinigung und Erleuchtung ist, ist die orthodoxe Ethik daher die Reinigung (Purifikation) des Menschen.
Wenn praxis in der heiligväterlichen Tradition die Reinigung des Herzens ist, dann ist theoria einerseits die Erleuchtung des nous und andererseits die Schau des ungeschaffenen Lichtes. So wird in der Lehre des hl. Gregor Palamas deutlich, daß die theoria Gottes die Vereinigung des Menschen mit Gott ist. Sie wird durch Vergöttlichung (theosis) bewirkt und schenkt dem Menschen die Erkenntnis Gottes. Theoria – Vereinigung – theosis und Erkenntnis Gottes sind in der heiligväterlichen Tradition synonym.
Dies also ist der Pfad, der zur Heilung des Menschen führt. Genauso wie jede Wissenschaft eine besondere Vorgehensweise besitzt, um den Menschen zur Erkenntnis zu führen, so hat auch die Kirche eine Methode, um den Menschen zu Gott zu führen. Und diese Methode besteht in der Reinigung des Herzens, der Erleuchtung des nous und der Vergöttlichung (theosis) – und wird auch genannt: praxis und theoria. 
 
 Aus: Der Schmale Pfad, Band 7 März/April 2004, Kapitel aus dem Werk Orthodox Spirituality von Metropolit Hierotheos

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