Vater Serafim war für mich die rätselhafteste Person im Höhlenkloster von Pskow und Petschory. Er entstammte dem baltischen Adel, kam in den 1930er Jahren ins Kloster und überantwortete sich dem großen Starez, Hieroschemamönch Simeon, in den Gehorsam. Vater Serafim hatte nicht viel Kontakt zu den Menschen. Er lebte in einer bewohnbar gemachten Höhle, wo es sehr feucht und dunkel war. In den Gottesdiensten stand er, ganz ins Gebet vertieft, mit tief gesenktem Haupt, dann und wann tat er auf eine sonderbar leichte und andächtige Weise das Kreuzzeichen. Durch das Kloster schritt er auch immer ebenso konzentriert. Uns, den Novizen, schien es ein Verbrechen, ihn zu stören. Allerdings wandte er sich manchmal selbst kurz an uns. Beispielsweise gab er dem auf dem Klosterplatz Dienst tuenden Novizen bei der Rückkehr von der Liturgie auf dem Weg in seine Klosterzelle immer eine Prosphora. Oder einmal dachte ein Novize - Sascha Schwezow - daran, dem Kloster den Rücken zu kehren. Vater Serafim trat unerwartet an ihn heran, stampfte mit dem Fuß und rief streng: “Für dich gibt es keinen Weg heraus aus dem Kloster!”
Er selbst, der sechzig Jahre hier verbrachte, ohne das Kloster je zu verlassen, sagte von sich: “Ich habe das Kloster nicht einmal in Gedanken verlassen.” Freilich wurde er 1945, da er als Deutscher galt, von unseren Soldaten vor das Kloster geführt, um erschossen zu werden. Sie überlegten es sich dann aber anders und erschossen ihn nicht.
Aber auch ganz allgemein war Vater Serafim, ganz ungeachtet seiner Verschlossenheit und Strenge, ein ungewöhlich gutherziger, liebender Mensch. Im Kloster wurde er von allen verehrt und geliebt. Auch wenn man ihm mit Furcht, oder besser: mit Ehrfurcht begegnete, als einem Menschen, mit dem Gott auf Erden weilt, als einem lebendigen Heiligen.
Ich kann mich an meine damaligen Beobachtungen erinnern. Einige Zeit war ich Hypodiakon beim Klostervorsteher, Archimandrit Gavriil, und bemerkte, dass, wenn Vater Serafim den Altarraum betrat, sich der Klostervorsteher eilends von seinem Abtssitz erhob und ihn mit besonderen Ehrerbietung begrüßte. Keinem anderen erwies er solche Ehren.
Ob Winter oder Sommer, exakt um vier Uhr morgens verließ Vater Serafim sein Höhlenkellion und schaute im Kloster kurz nach der Ordnung. Erst dann kehrte er in seine Zelle zurück und feuerte den Ofen an, der aufgrund der Feuchtigkeit in der Höhle fast das gesamte Jahr über betrieben werden musste. Ich denke, Vater Serafim fühlte sich als ein besonderer Hüter des Klosters von Petschory, vielleicht war ihm diese Aufgabe aber tatsächlich so anvertraut worden. Wie dem auch sei, die Stimme dieses deutschen Barons, dieses großen, asketischen und auch hellsichtigen Mönchs war bei den schwierigsten Entscheidungen, die von der Klosterbruderschaft zu treffen waren, immer maßgeblich.
Vater Serafim hat nur sehr selten irgendwelche besonderen, belehrenden Worte geäußert. Im Vorraum seiner rauen Höhlenzelle waren Zettel mit Zitaten aus den Werken des hl. Tichon von Zadonsk angebracht, und die, welche ihn besuchten, begnügten sich oft mit diesen Zitaten oder der Empfehlung Vater Serafims: “Lest mehr vom heiligen Bischof Tichon!”
All die Jahre seines Klosterlebens begnügte sich Vater Serafim mit dem Geringsten. Nicht nur bei den Speisen, sondern auch, was den Schlaf oder die Gesellschaft von anderen Menschen angeht. Beispielsweise benutzte er in der Sauna nie die Dusche, ihm genügten zwei oder drei kleine Holzeimer mit Wasser. Als er von den Novizen gefragt wurde, warum er nicht die Dusche benutzt, denn dort gäbe es ja Wasser, soviel man will, brummte er zur Antwort, dass sich unter der Dusche zu waschen genauso sei, wie Schokolade essen.
Einmal, ungefähr im Jahr 1983, war ich in Diweewo. Damals war das noch viel schwieriger, als es das heute ist: in der Nähe befand sich eine gesperrte militärische Siedlung. Die alten Nonnen von Diweewo gaben mir einen Splitter von dem Stein, auf dem der heilige Serafim von Sarow einst betete. Als ich nach Petschory zurückkehrte, entschloss ich mich, Vater Serafim aufzusuchen und ihm diese Reliquie zu schenken, da sie mit seinem Schutzheiligen zu tun hat. Als Vater Serafim dieses unerwartete Geschenk erhielt, betrachtete er es erst lange und fragte dann:
“Was kann ich aus Dank dafür für Sie tun? Ich bin wirklich überrascht.”
“Ach, nichts...”
“Ach, nichts...”
Doch dann sprudelte das Verborgenste aus mir heraus:
“Bitte, beten Sie, dass ich Mönch werde!”
“Bitte, beten Sie, dass ich Mönch werde!”
Ich kann mich genau daran erinnern, wie aufmerksam Vater Serafim mich betrachtete.
“Dafür braucht es das Wichtigste”, sprach er leise. “Ihre eigene Entscheidung.”
Von der Entscheidung zum Mönchtum sprach er zu mir noch einmal viele Jahre später unter ganz anderen Umständen. Ich war damals schon in Moskau im Dienst bei Metropolit Pitirim. Vater Serafim verlebte nun bereits schon das letzte Jahr seines irdischen Lebens und stand fast nicht mehr von seinem Lager auf. Als ich im Kloster ankam, suchte ich den Starez in seiner Höhlenzelle auf. Und plötzlich fing er selbst an, vom Kloster und von der derzeitigen Lage des Mönchtums zu sprechen. Das war für ihn sehr ungewöhnlich und damit ein umso wertvollerer Moment. Aus diesem Gespräch merkte ich mir ein paar wichtige Gedanken.
Zum ersten, Vater Serafim sprach vom Kloster mit großer, kaum in Worte zu fassender Liebe, vom Kloster als einem unermesslichen Schatz:
“Sie können sich gar nicht vorstellen, was ein Kloster bedeutet! Das ist... eine Perle, ein wunderbarer Schatz in unserer Welt. Das werden Sie erst später zu schätzen wissen und verstehen.”
Dann kam er auf das wichtigste Problem des zeitgenössischen Mönchtums zu sprechen:
“Die Not der Klöster in der heutigen Zeit besteht darin, dass die Menschen nur aufgrund schwacher Entschlußkraft hierher kommen.”
Ich verstehe heute weitaus besser, wie tiefgründig diese Bemerkung Vater Serafims war. Es gibt in uns immer weniger von einer aufopfernden Selbstverleugnung und von Entschossenheit zum monastischen Weg. Das war es, was Vater Serafim bei der Beobachtung der jungen Klosterbrüder Sorgen bereitete.
Schließlich sagte er eine für mich sehr wichtige Sache:
“Die Zeit der großen Klöster ist vorbei. Jetzt werden es die kleinen Klöster sein, die Früchte bringen, die, in denen der Abt sich um das geistliche Leben eines jeden Mönchs kümmern kann. Merken Sie sich das. Wenn Sie einmal Klostervorsteher werden, nehmen Sie nicht zu viele Mönche bei sich auf.”
So verlief unser letztes Gespräch im Jahre 1989. Ich war damals ein einfacher Novize, noch nicht einmal ein Mönch.
Die Hellsichtigkeit Vater Serafims wurde weder von mir noch von sonst einem meiner Freunde im Kloster bezweifelt. Vater Serafim selbst freilich verhielt sich Gesprächsthemen wie Wunder und Hellsichtigkeit gegenüber sehr vorsichtig, ja sogar etwas skeptisch. Einmal sagte er:
“Nun, alle reden davon, dass Vater Simeon ein Wundertäter gewesen sei, ein Hellsichtiger. Ich nun habe so viele Jahre an seiner Seite verbracht und nichts dergleichen bemerkt. Er war einfach nur ein guter Mönch.”
Doch nicht nur einmal habe ich die Macht der Gaben des Vater Serafim am eigenen Schicksal erfahren.
Eines Sommers im Jahr 1986 ging ich an der Zelle des Vaters Serafim vorüber und sah, wie er daran ging, die Glühbirne in der Lampe vor seiner Zelle zu wechseln. Ich holte einen Hocker heran und half ihm dabei. Vater Serafim dankte mir und sagte:
“Ein Novize wurde vom Bischof nach Moskau zum Gehorsam berufen. Man dachte, dass das nur für kurze Zeit sei, aber er ist dann dort geblieben.”
“Na und?” sagte ich.
“Na, und nichts weiter”, sagte Vater Serafim, drehte sich um und ging in seine Zelle.
“Na und?” sagte ich.
“Na, und nichts weiter”, sagte Vater Serafim, drehte sich um und ging in seine Zelle.
Ratlos ging ich meiner Wege. Was für ein Novize? Was für ein Bischof?..
Drei Monate später berief mich der Klostervorsteher, Archimandrit Gavriil zu sich. Er sagte, dass er an diesem Tag einen Anruf aus der Hauptstadt von Erzbischof Pitirim von Wolokolamsk bekommen habe, der dem Kirchlichen Amt für Veröffentlichungen des Moskauer Patriarchats vorstand. Vladyka Pitirim hatte erfahren, dass es im Kloster von Petschory einen Novizen gebe, der einen Hochschulabschluss im Bereich Kinematographie habe, und bat den Klostervorsteher, diesen zu sich nach Moskau zu schicken. Es wurden dringend Fachleute gesucht, die einen Fernsehfilm anlässlich der Tausendjahrfeier der Taufe Russlands produzieren sollten. Die Feiern sollten in zwei Jahren stattfinden. Der Novize, um den es sich dabei handelte, war ich. Ich kann mich an keinen schlimmeren Tag in meinem Leben erinnern. Ich flehte Vater Gavriil an, mich nicht nach Moskau zu schicken, doch er hatte die Entscheidung bereits getroffen:
“Ich werde mich deinetwegen nicht mit Pitirim zanken!” - so schnitt er all mein Flehen ab.
Erst später erfuhr ich, dass meine Rückkehr nach Moskau ebenso auch ein langersehnter Wunsch meiner Mutter gewesen ist, die immer noch darauf hoffte, mich vom Mönchtum abzubringen. Sie tat Vater Gavriil sehr leid, und er wartete auf einen Vorwand, mich zu meiner trostlosen Mutter zu schicken. Die harschen Formulierungen waren dabei sein gewöhnlicher Stil.
Natürlich habe ich mich sofort an mein letztes Gespräch mit Vater Serafim erinnert, an den Novizen, an den Bischof, an Moskau, und ich stürzte zu ihm in seine Zelle.
“Der Wille Gottes! Bekümmern Sie sich nicht. Alles geschieht zum Besten, das werden Sie dann selbst sehen und verstehen”, sagte der Starez mir zärtlich.
Wie schwer war es, besonders in der ersten Zeit, wieder in Moskau zu leben! Schwer vor allem auch deshalb, weil ich, in den Nächten erwachend, gewahr wurde: die wunderbare, mit nichts zu vergleichende Welt des Klosters - mit ihren Vätern Serafim, Ioann, Nafanail, Feofan, Alexander - ist viele hundert Kilometer entfernt. Ich aber bin nun hier, in Moskau, wo es nichts vergleichbares gibt.
Kapitel aus dem Buch "Несвятые святые" (Englisch: "Everyday Saints") von Archimandrit Tichon (Schewkunow).
Quelle: http://www.orthodox-dresden.de
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