Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Brüder und Schwestern!
Ein Schriftgelehrter fragte Jesus Christus: „Lehrer! Welches ist das große Gebot in dem Gesetz?“ Der Heiland antwortete: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstande". Dieses ist das große und erste Gebot. Das zweite aber, ihm gleiche, ist: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst". (Mt., 22, 36-39).
Brüder und Schwestern! Ein Pilger, der die heiligen Orte besuchte, hörte, dass in der Einsiedelei ein durch hohes geistiges Leben gekennzeichneter Schema-Mönch wohnte, und entschied sich, ihn zu besuchen und bei ihm zu beichten.
Der Schema-Mönch empfing ihn mit Liebe und bat ihn, seine Beichte auf Papier niederzuschreiben. Der Pilger verbrachte einige Tage in der Einsiedelei, wobei er seine Buße vor Gott ablegte. Er schrieb seine Sünden auf und übergab sie dem Starez. Dieser las die Beichte aufmerksam und sagte daraufhin: „Bruder, du schriebst hier viel Überflüssiges, hast das Wichtigste jedoch nicht einmal erwähnt.“ Danach sprach er weiter: „Du beichtest dieselben Sünden immer wieder, Gott hat Dir diese jedoch bereits verziehen - du traust dem Mysterium der Beichte nicht und beichtest deine Sünden wieder und wieder. Glaubst du nicht, dass das für dich vergossene Blut Christi deine Sünden bereits weggewaschen hat? Es reicht, sie einmal zu beichten. Außerdem schreibst du über viele Dinge, die sich gar nicht auf deine Sünden beziehen. Du erzählst ausführlich über deine sündigen Gedanken - das solltest du nicht tun: indem du diese analysierst, kannst du deine Seele durch Erinnerungen ein weiteres Mal schänden. Du erwähnst in deiner Beichte andere Personen: aber man sollte in der Beichte keine Namen nennen - spreche nur über dich selbst. Und, schließlich, hast du über das Wichtigste nichts gesagt, und zwar darüber, dass du Gott nicht liebst, und dass du die Menschen nicht liebst“.
Der Pilger widersprach: „Vater, wie kann es sein, dass ich Gott nicht liebe?! Ihm zuliebe habe ich doch alles verlassen und wandere wie ein Bettler. Wie sollte es gehen, dass ich das Evangelium, seine Heiligen Wörter, nicht glaube - wem denn sonst auf Erden sollte ich glauben? Wie kann es sein, dass ich die Menschen nicht liebe?! Durch ihre Gnade lebe ich doch - jeder, der mir eine Münze oder ein Stück Brot gibt, rettet mich vor dem Verhungern, er ist mein Wohltäter. Worauf soll ich stolz vor diesen sein, wenn ich nichts habe, außer diesen Fetzen?“ Der Schema- Mönch antwortete darauf: „Bruder, du hast das innere geistige Leben noch nicht begriffen, daher kennst du dein Herzen nicht gut und hast gar nicht verstanden, worüber ich vor dir gesprochen habe - hier, lies einmal die Beichte, die mir vor kurzem mein Sohn im Geiste hingebracht hat.“ Er gab ihm den Zettel mit der Beichte, und der Pilger fing an, vorzulesen:
“Während ich ausführlich mein Leben studierte, verstand ich, dass ich Gott überhaupt nicht liebe: wen ich liebe, den trage ich in meinem Herzen; es ist für mich wie Ambrosia, mich an seinen Namen zu erinnern; wen ich liebe, dessen gedenke und an den denke ich immer. Jedoch denke ich viel an Gott? Größtenteils sind meine Gedanken etwas zeitweilig, nichtig und sündig. An einem Tag von vierundzwanzig Stunden widme ich kaum eine Stunde den Gedanken an die Göttliche Vorsehung.
Wenn ich an Gott denke, denke ich irgendwie lustlos und gezwungen an Ihn; und wenn in dieser Zeit einer zu mir kommt mit irgendwelchen Nachrichten oder Erzählungen, sauge ich begierig jedes Wort ein. Wenn ich das Heilige Evangelium oder die Bücher der Väter lese, vergesse ich sofort all das Geschriebene; aber Nachrichten und Tratsch behalte ich Jahre lang; das bedeutet - ich liebe den Gott nicht.
Wen ich liebe, mit dem unterhalte ich mich gerne - die Zeit scheint unbemerkt zu vergehen, während ich mich zum Beten nur mit Mühe und Zwang überwinde – und einige Minuten des Betens kommen mir wie lange Jahre vor. Ich möchte so schnell wie möglich mit dem Gebet aufhören und mich mit meinen alltäglichen Dingen beschäftigen. Ich suche sogar einen Anlass, um das Gebet so schnell wie möglich zu beenden. Daher sehe ich, dass ich Gott nicht liebe, ansonsten hätte ich gewünscht, mich immerzu mit Ihm zu unterhalten und an Ihn zu denken. Wen ich liebe, mit dem möchte ich mich treffen; aber wie gehe ich ins Gotteshaus hinein? Kaltherzig, ungerne, ohne die Anwesenheit Gottes in der Kirche zu spüren. Das bedeutet - ich liebe Gott nicht. Während des Gebets selbst denke ich nicht an Gott, sondern an etwas anderes, und manchmal, nachdem ich das Gebet beendet habe, weiß ich nicht einmal, ob ich die Morgen- oder die Abendgebete vorgelesen habe - nicht einmal die Zeit des Betens war Gott gewidmet. Wenn wir jemanden lieben, erfüllen wir seine Wünsche und seinen Willen gerne; Gott selbst sagte: Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt. Wenn ich Gott liebte, hätte ich all Seine Gebote auswendig gelernt und hätte mir Mühe gegeben, sie zu erfüllen. Und wenn man mich jetzt fragt, welche diese Gebote sind, würde ich sie nicht einmal aufzählen können. Also sehe ich, dass ich Gott nicht liebe. Wenn ich vor der Wahl stehe, ob ich nach dem Willen Gottes handeln soll, oder nach dem Willen meines genusssüchtigen Herzens, handele ich meistens nach dem Antrieb meiner eigenen Leidenschaften - das bedeutet, ich liebe Gott nicht.
Was die Liebe zu den Menschen betrifft, habe ich mich und mein Leben angeschaut und verstanden, dass ich niemanden liebe, außer mich selbst. Wenn wir einen Menschen lieben, sehen wir an ihm nur das Gute, und ich sehe an den Menschen nur das Schlimme, ich sehe ihre Sünden. Nur in mir selbst finde ich Würde und Tugenden. Also liebe ich die Menschen nicht.
Wen wir lieben, dessen Taten rechtfertigen wir; ich dagegen verurteile alle Menschen in meiner Umgebung und halte sie für unwürdig. Das heißt, ich liebe die Menschen nicht. Wen wir lieben, dem verzeihen wir gerne; ich jedoch erinnere mich an Beleidigungen sehr lange, vielleicht das ganze Leben lang. Das heißt, ich habe in mir keine Liebe. In der Heiligen Schrift steht es geschrieben: Freuet euch mit den sich Freuenden, weinet mit den Weinenden (Röm. 12, 15) – aber wenn ich in mein Herzen hineinschaue, sehe ich, dass mich das Wohl und Glück der Menschen gar nicht erfreut; ich bin dem gegenüber gleichgültig. Ich sehe jedoch in mir etwas noch furchtbareres: das fremde Glück macht mich traurig. Wenn dagegen einem Menschen ein Unglück passiert, empfinde ich innerlich Schadenfreude, während ich ihn äußerlich bemitleide. Daher habe ich verstanden, dass ich die Menschen nicht liebe; ich habe nichts heiliges in mir!
Mein Glaube ist nur äußerlich. Wenn ich dem Evangelium geglaubt hätte, wäre ich vor dem Gedanken an die Hölle zurückgeschauert und hätte mir Mühe gegeben, das Himmelreich zu erwerben; aber der Gedanke an den Tod und an das zukünftige Leben berührt mein versteinertes Herz nicht.
Ich sehe, wie Menschen um mich herum sterben, lebe aber selber so, als ob ich hier auf Erden für ewig leben würde. Das heißt, ich bin ungläubig; das heißt, ich habe keine Angst vor Gott. Sogar böse Geister, Höllengeister, die Gott hassen, erschauern vor Ihm, wie die Schrift besagt; aber ich habe nicht einmal diese Furcht, die dem Teufel gegeben wurde: ich erschauere nicht vor den Bedrohungen Gottes, mit denen Er sich durch die Propheten an die Welt und an mich wendet - ich bin komplett gefühllos. Ich halte mich für gläubig, lebe jedoch so, als ob es keinen Gott gäbe. Schlimmer noch: wenn ich mich nach einer Sünde sehne, und mein Gewissen mich davor warnt, bemühe ich mich, mein Gewissen abzutöten, zu dämpfen, und es scheint mir, dass es besser für mich wäre, wenn es Gott gar nicht gäbe; das heißt, dass ich im meinem Herzen ein Mörder Gottes bin; ich glaube nicht an Gott und liebe Ihn nicht. Ich stehe während des Gottesdienstes und in den heiligen Minuten, wenn der Heilige Geist die im Gotteshaus Betenden segnet, und bin sogar in dieser Zeit, die selbst für die Engel furchtbar ist, mit lasterhaften, schmutzigen Gedanken und Erinnerungen beschäftigt; während ich im Gottestempel bin, verwandele ich mein Herz in einen Saustall. Das bedeutet, dass ich Gott nicht liebe. Das bedeutet, ich glaube an nichts Heiliges. Ich bin von Stolz erfüllt: im meinem Herzen glaube ich, dass alle Leute niedriger seien als ich, während ich irgendein Auserwählter sei. Ich habe mich in irgendeinen Götzen umgewandelt, und nur diesen verehre ich.
Wenn ich die Heilige Schrift lese und die Werke der Heiligen Väter, dann nicht zu dem Zweck, sie zu erfüllen, sondern um vor den Gläubigen in den Ruf eines Weisen zu kommen, indem ich ihnen die Heiligen Bücher nacherzähle. Wenn ich mich dagegen mit profanen Menschen treffe, traue ich mich nicht einmal, mich als Christ zu zeigen, damit sie mich nicht verspotten und nicht als Fanatiker bezeichnen. Vor profanen Menschen schäme ich mich sogar, mich zu bekreuzigen, obwohl die Menschheit durch das Kreuz gerettet wurde. Daher halte ich mich für einen Menschen, der Gott nicht liebt, die Menschen hasst, an nichts Heiliges glaubt und von satanischem Stolz erfüllt ist.“
Der Pilger erbleichte und sagte: „Vater, ich habe tatsächlich meine Sünden gebeichtet, diese Sünden in meinem Herzen aber nicht eingesehen. Was soll ich tun, um Gott zu lieben?“ Der Schema-Mönch antwortete: „Mein ganzes Leben arbeite ich daran, Gott zu lieben. Diese Arbeit ist das, was uns gehört; aber die Liebe selbst ist die Gabe der Gnade Gottes. Allerdings kann ich dir einige Ratschläge geben. Du weißt, was ein Vergrößerungsglas ist? Dieses Glas hat folgende Eigenschaft: wenn man in ihm Sonnenstrahlen sammelt und dieses konzentrierte Licht auf Holz richtet, wird dieses sich allmählich erwärmen und entflammen. Also sammele du, wie verstreute Strahlen, deinen Verstand in der Tiefe deines Herzens, bewahre in deinem Herzen den Namen Jesu Christi; danach denke an die Wohltaten Gottes, daran, dass du dich im Strom der Gnade Gottes befindest, und dass jeder Tag deines Lebens ein Geschenk Gottes an dich ist. So wirst du anfangen, Dankbarkeit gegenüber Gott zu verspüren, und die Dankbarkeit gebärt Liebe. Dazu lese jeden Tag das Heilige Evangelium, damit du es erfüllen kannst. Denke jeden Abend daran, was du am Tage getan hast, welche Sünden du begangen hast, welche Gebote du erfüllt hast. Um die Menschen zu lieben, verurteile niemanden; versuche jedoch, dich daran zu erinnern, dass jeder seine eigenen verborgenen Tugenden hat, und sage: ‚Wer auch immer dieser Mensch ist, ist er doch besser als ich.’ Gebe heimlich Almosen an deine Feinde und bete immer: ‚Oh Herr, gewähre mir, Dich mit solcher Kraft zu lieben, mit der ich vorher die Sünde liebte!’”.
Ein Abschnitt aus dem Buch 'Aufrichtige Erzählungen eines Pilgers', nacherzählt vom Archimandriten Rafail (Karelin) in seiner Predigt 'Über die Liebe zu Gott und den Menschen'.
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