Der Retter der Welt besuchte während Seiner Wanderschaft auf der Erde, in unserem Tal der Vertreibung und Leiden, zwei fromme Frauen, Blutschwestern, Martha und Maria, die in Bethanien außerhalb Jerusalems wohnten. Sie hatten in Bethanien ihr eigenes Haus. Sie hatten einen Bruder – Lazarus, der gewürdigt wurde, als Freund des Gottmenschen und Seiner Apostel bezeichnet zu werden (Jo. 11, 11). Aus dem Evangelium ist ersichtlich, daß der Herr wiederholt das Haus der frommen Familie besuchte. Bei einem solcher Besuche erweckte Er Lazarus auf, der schon vier Tage im Grab gelegen hatte.
Der heilige Evangelist Lukas berichtet, daß sich Martha bei dem hier erwähnten Besuch des Herrn in diesem Haus um die Bewirtung des höchstverehrten Gastes mühte, während Maria Ihm zu Füßen saß und Seinen Worte lauschte. Martha sorgte sich einzig darum, daß die Bewirtung vollkommen zur Zufriedenheit ausfiele, bat den Herrn, Maria zu gebieten, daß sie ihr helfe. Der Herr aber entgegnete: Martha, Martha, du machst dir viele Mühen; eines aber ist vonnöten: Maria aber hat den guten Teil erwählt, der ihr nicht genommen wird (Lk. 10, 41, 42). Nach der Auslegung der heiligen Väter, wird mit Martha geheimnisvoll die körperliche Askese dargestellt, mit Maria die geistliche (Sel. Theophylakt u. viele andere Väter). Der Bericht von diesem Besuch des Herrn bei den beiden Schwestern wird gemäß der Ordnung der Kirche an allen Feiertagen der Gottesmutter gelesen. Aus diesen beiden Gründen muß die Untersuchung des Ereignisses und der Lehre, die darin enthalten sind, besonders interessant sein.
Martha war die ältere Schwester und wird vom Evangelisten als Hausherrin dargestellt. Sie nimmt den Heiland ins Haus auf, sie wacht über die Bewirtung, bereitet Speise vor, räumt den Tisch auf, bringt die Speisen. Ihr Dienen ist ununterbrochene Tätigkeit. Und die körperliche Arbeit gemäß dem Altersvorrang nimmt im asketischen Leben eines jeden Jüngers Christi den ersten Platz ein. “Körperliche Tätigkeit, – sagte der heilige Isaak der Syrer, – geht der geistliche Tätigkeit voran, so wie die Schöpfung des Körpers Adams der Schaffung seiner Seele voranging. Wer körperliche Tätigkeit nicht erlangt hat, der kann auch keine seelische Tätigkeit haben: die letztere wird aus der ersteren geboren, wie die Ähre aus dem gesäten nackten Weizenkorn” (56. Rede). Die körperliche Askese besteht in der körperlichen Ausführung der Gebote des Evangeliums. Hierher gehört: das Geben von materieller Barmherzigkeit, Gastfreundschaft, Mitgefühl mit den unterschiedlichen Nöten und Leiden der bedrängten und leidenden Menschheit. Hierher gehört die Keuschheit des Körpers, die Enthaltsamkeit von Zorn, von Luxus, von Vergnüglichkeiten und Zerstreuung, von Verhöhnung und Verurteilung, von allen Worten, die Bosheit und Unreinheit des Herzens zum Ausdruck bringen. Hierher gehört Fasten, Nachtwachen, Psalmengesang, Knieverbeugungen, Stehen beim Gebet in der Kirche und im Kämmerlein.… Die körperliche Askese reinigt die Seele allmählich von Leidenschaften und macht sie mit dem Geist des Evangeliums vertraut. Die Gebote des Evangeliums übergeben bei ihrer Erfüllung in der Tat ihrem Erfüller allmählich die ihnen innewohnenden tiefen Gedanken und das tiefe Gefühl; sie teilen dem Erfüller Wahrheit, Geist und Leben mit. Die körperliche Askese hat ihre Grenze und ihr Ziel: diese Grenze und Ziel sind im entschiedenen Übergang des Asketen zur geistlichen Askese beschlossen. Durch den entschiedenen Übergang wird der allmähliche Übergang gekrönt. Das Dienen der Martha war abgeschlossen, als die Bewirtung des Herrn vollbracht war.
Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte auf Sein Wort (Lk. 10, 39). Die Stellung, die Maria einnahm, dient als Kennzeichnung des Zustandes der Seele, die des Eintritts in die geistliche Askese gewürdigt ist. … Wer das Dienen an Gott im Geist erreicht hat, läßt die äußerlichen Tätigkeiten hinter sich, verläßt die Sorge um andere Arten der Gottgefälligkeit, oder verwendet sie in Maßen und selten, in Fällen besonderer Not. Mit seinem Geist liegt er dem Heiland zu Füßen, hört einzig auf Sein Wort, erkennt sich als Geschöpf Gottes, und nicht als selbständiges Wesen (Ps. 99, 3), erkennt sich als Objekt der Bearbeitung und Gott als Wirkenden (Jo. 15, 11), überanwortet sich vollkommen dem Willen und der Lenkung des Heilands. Ganz offensichtlich erlangt die Seele einen solchen Zustand durch mehr oder weniger anhaltende Askese. Auch Maria hätte nicht dem Herrn zu Füßen sitzen und die ganze Aufmerksamkeit auf Seine Lehre lenken können, hätte nicht Martha die Sorge um die Bewirtung übernommen. Dienst und Verehrung Gottes im Geiste ist eben genau jenes gute Teil,ist dieser selige Zustand, das im irdischen Leben seinen Anfang nimmt und nicht aufhört, wenn die körperliche Askese mit dem Ende des irdische Lebens eingestellt wird. Das gute Teil bleibt ein unabdingbarer Bestandteil der Seele in der Ewigkeit, erhält in der Ewigkeit seine volle Entwicklung. Das gute Teil wird der Seele nicht genommen, die es erworben hat, sondern bleibt stets ihr Eigentum.
Die körperliche Askese wird sehr häufig durch einen durchaus wichtigen Mangel gestohlen. Dieser Mangel tritt dann in Erscheinung, wenn der Asket seine Askese unvernünftig betreibt, wenn er der Askese übermäßige Bedeutung beimißt, wenn er die körperlichen asketischen Übungen um ihrer selbst willen betreibt, fälschlicherweise in ihnen seine ganze Lebensweise, seine gesamte Gottgefälligkeit auf sie beschränkt und begrenzt. Mit einer solchen falschen Einstellung geht immer die Erniedrigung der geistlichen Askese einher, das Bestreben, die um sie Bemühten davon abzuhalten. Das war mit Martha geschehen. Sie hielt das Verhalten der Maria für falsch und ungenügend, ihr eigenes aber für wertvoller, achtenswerter. Der barmherzige Herr verwirft Marthas Dienst nicht, sondern bedeutet ihr liebevoll, daß in ihrem Dienen viel Überflüssiges und Nichtiges ist, daß das Tun Mariens das wesentliche Tun ist. Mit dieser Bemerkung reinigte der Herr die Askese Marthas von Überheblichkeit und lehrte den körperlichen Dienst in Demut zu vollbringen. Genau! Körperliche Askese, die noch nicht von geistlichem Verstand erleuchtet ist, enthält immer viel Eitles. Derjenige, der sich darin abmüht, auch wenn er sich um Gottes willen müht, müht sich doch im alten Menschen; auf seinem Acker wächst mit der Weizen auch Unkraut; er kann in seinen Gedankengängen und seiner Tätigkeit nicht frei sein vom Einfluß des fleischliche Sinnens. Wir alle müssen der vom Herrn gegebenen Belehrung die notwendige Aufmerksamkeit schenken, und unsere guten Werke, die wir mit Hilfe des Körpers vollbringen, mit äußerster Demut, wie Sklaven, ausführen, die verpflichtet sind, den Willen ihres Herrn zu erfüllen, da sie diesen Willen wegen ihrer Ohnmacht und sündigen Verwundung nicht richtig erfüllen können. Für diejenigen, die sich in körperlicher Askese üben, ist es sehr wertvoll zu wissen, daß es eine andere Askese gibt, die unvergleichlich höher steht, geistige Askese, die von der göttlichen Gnade überschattet ist. Wer kein geistliches Tun besitzt, sagte Isaak der Syrer, bleibt den Geistesgaben fremd (Belehrung 56), gleich wie seine körperlichen asketischen Übungen aussehen. Der große Lehrer der Mönche vergleicht das körperliche Tun, das für sich alleine steht, und dem das Tun des Geistes in der inneren Zelle nicht entspricht, mit einem unfruchtbaren Schoß und trockenen Brüsten: denn körperliches Tun kann dem Verstand Gottes nicht nahekommen (hl. Isaak der Syrer, 58. Rede, zit. nach hl. Nil Sorskij, Vorwort zur Überlieferung). Das sehen wir an Martha. Sie war so mit ihrer Arbeit beschäftigt, so überzeugt von deren Bedeutung, daß sie den Herrn nicht um Seine Anweisung bat, was Ihm wohlgefällig sei, sondern ihr eigenes Verständnis und ihre Anweisung einbrachte, sich um ihre Erfüllung einsetzte.
Warum ist die Lesung dieses Berichtes des Evangeliums von der heiligen Kirche für alle Feste der Gottesmutter angesetzt? Weil die Gottesmutter dem Gottmenschen den erhabensten körperlichen Dienst darbrachte und den erhabensten Dienst des Geistes, da sie in ihrem Herzen alle Seine Worte legte (Lk. 2, 51), indem sie alles, was mit Ihm von Kindheit an geschah, bewahrte und alles was Ihn betraf in ihrem Herzen zusammenlegte (Lk. 11, 27). Zur Erklärung dessen wird dem Bericht aus dem folgenden Kapitel des Evangeliums der Anruf einer Frau an den Herrn hinzugefügt, die die Lehre des Herrn gehört hatte:selig der Leib, der Dich getragen, und die Brüste, die du gesogen hast(Lk. 11, 27), und die Antwort des Herrn auf diesen Aufruf: dadurch sind selig die das Wort Gottes hören und es bewahren (Lk. 11, 28). Die Antwort Gottes auf menschliches Urteil! Menschliches Urteil erkannte die Gottesmutter als selig allein wegen der Geburt des Gottmenschen aus ihr: der Gottmensch erhöht die Würde der Gottesmutter, indem Er als besonders selig diejenigen bezeichnet, die das Wort Gottes hören und halten. Diese Seligkeit besaß die Gottesmutter über allen Menschen, da sie den Worten des Gottmenschen lauschte und sie mit solchem Mitgefühl bewahrte, welches keiner der Menschen hatte. Hier wird wiederum dem Dienst des Geistes Vorrang über den körperlichen Dienst eingeräumt, im Gegensatz zum menschlichen Urteil.
...Sowohl kalte als auch erhitzte körperliche Askese, die der geistigen fremd ist, fremd jenem geistlichen Sinnen, welches das Wort Gottes fordert, und welches die Seele der körperlichen Askese sein muß, ist verderblich. Sie führt zu Überheblichkeit, zu Verachtung und Verurteilung des Nächsten, führt zu Selbstverblendung, bringt den inneren Pharisäer hervor (hl. Gregor Sinait, 137 Kapitel, Kap. 19, Philokalie, Teil 1), entfremdet von Gott, vermählt dem Satan.
Wenn Gottes Gnade den Asketen reichlich überschattet: dann offenbart sich in ihm reiche geistige Askese, die zu christlicher Vollkommenheit führt. dann offenbart sich in der Seele ihre Sündhaftigkeit, die ihr bisher verborgen blieb! Dann... entsteht Gebet und Tränen in der tiefsten Tiefe der Seele, Geist und Herz artikulieren sie, während der Mund schweigt, sie streben dem Himmel zu, werfen den Betenden dem Herrn zu Füßen, halten ihn bei den Füßen des Heilands: die Seele, die ihre Sündhaftigkeit und die unendliche Größe Gottes bekennt, geht ein in die Vollkommenheit, wird von der Rechten des allgütigen Gottes, der den Menschen schuf und ihn auch wiedererschafft, zur Vollkommenheit geführt. Segne, meine Seele, den Herrn! Und vergiß nicht, was Er dir Gutes getan. Er vergibt dir all dein Unrecht, Er heilt all deine Krankheiten, Er erlöst dein Leben vom Verderben, Er krönt dich mit Erbarmen und Gnade. Wie ein Adler wird deine Jugend dir neu (Ps. 102, 2–5) durch die Allmacht des Heilands, der unsere Natur in Sich erneuerte und uns erneuert.
Amen.
Quelle:Der Bote der deutschen Diözese
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