Donnerstag, 3. April 2014

Altvater Moses vom Hl. Berg -Selbsterkenntnis Brudererkenntnis Gotteserkenntnis[1]


Μit dem Segen Seiner Eminenz und mit Gottes Hilfe bin ich heute Abend zum vierten Mal bei euch, meine Geliebten, in eurer schönen Stadt, um euch etwas zu überbringen von der Frische, die vom Heiligen Geist stammt, von der Erfahrung des Heiligen Bergs, bezüglich eines Themas, das alle beschäftigt oder beschäftigen sollte, die geistige Menschen nicht bloß genannt werden, sondern auch wirklich sein möchten.
Ein Mönch besuchte einmal das Kellion eines anderen Mönchs, das recht gepflegt war, sauber, aufgeräumt und schön. Da sagte er zu sich selbst: "So schön wie sein Herz ist auch sein Haus." Danach ging er in ein anderes Kellion, das vernachlässigt war, voller Spinnen­gewebe und Unordnung, und er sagte sich: "Der Bruder beschäftigt sich mit geistigen Dingen und hat keine Zeit für das Materielle." Dieser Mönch war ein guter Mensch und sah alles mit einem guten Blick.
In unserer heutigen Darlegung wollen wir versuchen, zu sehen, wie auch wir solche lautere und schöne Gedanken erwerben können.
Drei sind die Hauptstufen des geistigen Lebens und Aufstiegs: 1. die Selbsterkenntnis, 2. die Erkenntnis des Bruders und 3. die Erkenntnis Gottes. Bei diesen wollen wir im Folgenden verweilen. Es geht um drei bekannte Unbekannte: uns selbst, den Nächsten und Gott. Wir sind gerufen, unser Verhältnis zu diesen drei einer neuen Prüfung zu unterziehen, mit bereitwilliger Liebe und wachem Interesse, und dazu müssen wir von vornherein die Willensschwäche von uns tun.
Willensschwäche rührt sowohl von einer schlechten Erziehung als auch von einem schwierigen Charakter. Der weise Salomo sagt: Der Willensschwache braust auf. Willens­schwäche geht oft einher mit Gleichgültigkeit, Gefühllosigkeit, Zaudern, Lauheit, Einsichts-losigkeit und Mangel an Gottesfurcht. Stärken wir mithin unseren Willen zu mutigen Taten, wie es die rechte und gründliche Erkenntnis unseres verborgenen Selbst ist, damit wir befreit werden aus den Sackgassen der Melancholie und der Ängste.

Selbsterkenntnis
Selbsterkenntnis bedeutet die genaue Kenntnis unserer Möglichkeiten, unserer Grenzen, A unserer Belastungsfähigkeit, unserer Leidenschaften, unserer Schwächen, unserer Tugenden, unserer Neigungen und Tendenzen. Diese Selbsterforschung erfordert Wissen, Geduld, Beharrlichkeit, Selbstentsagung, guten Rat und Erleuchtung, damit das Unterfangen nicht in Selbsttäuschung endet.
Selbsterkenntnis hat nichts zu tun mit Selbstgefälligkeit, das heißt mit jener Verfassung, in welcher der Mensch auf trügerische Weise mit sich selbst zufrieden ist, sich selbst schmei­chelt und bewundert, sodass sein Egoismus Fett ansetzt. Selbstgefälligkeit und Selbstzufrie­denheit deckt sich oftmals mit Selbstsucht, die ihr Opfer nicht bloß dazu bringt, sich selbst zu bewundern, sondern die Krankheit einer übermäßigen Selbstschätzung, einer wuchernden Überschätzung der eigenen Fähigkeiten mit sich bringt.
Selbsthilfe und Eigeninitiative sind zwar nützlich, doch hier ist große Vorsicht geboten, damit sie uns nicht zu Eigensinn und Individualismus verleiten. Gut ist zwar der Selbstantrieb, doch besser der Selbsttadel. Die selbstgewollte Selbstbeobachtung soll zum rechten Selbstvertrauen führen, nicht zur Zurschaustellung seiner selbst. Selbstgewahrsein und Selbstachtung sind erwünschte Ergebnisse der Selbsterkenntnis.
Die Selbstbeobachtung zur Ermittlung unseres wirklichen Zustandes läßt keine Improvisa­tion zu. In unseren Tagen, meine Geliebten, haben sich leider die selbsternannten Lehrer vermehrt, jene, die nicht vom Volk oder von Gott erwählt wurden, sondern von sich selbst. Sie reisen ungehindert umher und reden mit Leichtigkeit über eine improvisierte Selbst­erkenntnis, die sie selbst nicht besitzen. Wir aber wollen den Heiligen Vätern folgen, die über das sprachen und schrieben, was Gott ihnen zeigte und was sie selbst zuallererst in rechter Weise in die Tat umgesetzt hatten.
Damit wir uns selbst in aller Aufrichtigkeit und mit unterscheidender Strenge betrachten können, ist Selbstverleugnung unerläßlich. Christus nennt als grundlegende Voraussetzung dafür, dass wir Ihm nachfolgen können, die Verleugnung unserer selbst (Mt 10,39, Lk 14,26), das heißt die Absage an unseren geliebten Eigenwillen. Verleugnung unserer selbst bedeutet nach dem heiligen Basilios dem Großen das gänzliche Vergessen unseres ganzen vielfältigen Eigenwillens. Das Beispiel der Selbstverleugnung zeigte uns der Herr Selbst im Garten von Gethsemane (Lk 22,42). Doch was bedeutet diese Verleugnung in einem noch tieferen Sinn? Indem der Mensch sündigt, verleugnet er Gott und betet seinen Egoismus an. Mit der Verleugnung seines Eigenwillens kehrt er zurück auf den Weg, den er verlassen hatte. Nun anerkennt er statt des eigenen Willens den Willen Gottes, und so wird der Abgrund überbrückt. Aufrichtige Selbsterkenntnis und Absage an die eigenen Verfehlungen bringen dem Gläubigen unaussprechliche Freude.
Doch die Selbstrechtfertigung, die Liebkosung der eigenen Schwächen, das Bebrüten der Leidenschaften zeugt von falscher Selbstliebe, für die sich unser eigenes Selbst langsam aber sicher an uns rächen wird. Dies ist die Selbstgefälligkeit, die wir vorhin erwähnten, und sie geht einher mit der Geltungssucht, die krankhaft danach strebt, sich vor anderen in Szene zu setzen, um anerkannt zu werden. Basilios der Große stellt die Selbstgefälligkeit der Scham­losigkeit gleich, und der heilige Ignatios der Gottträger betrachtet sie als hochgradige Verblendung.
Wirkliche Selbsterkenntnis, das heißt richtige Kenntnis dessen, was einer vermag, was er hat und was er zu geben hat, kann der Seele des Gläubigen große Erquickung bringen. Doch leider plagen sich viele selbst, weil sie ihre eigenen Möglichkeiten nicht richtig kennen. Wir reden hier von innerer Autarkie.[2]
Machen wir rechten Gebrauch von dem, was wir haben, Geliebte, statt ständig nach dem zu suchen, was wir nicht haben und vielleicht noch lange nicht oder nie finden werden. Solches nämlich, wißt ihr, ist ein Spielchen der Dämonen - uns ständig zu reizen, zu wollen, was wir nicht haben.
Gelehrtheit ist nicht immer eine Tugend. Sich beschäftigen mit Vielem, Umgang mit Vielen, ständige Betriebsamkeit sind oft hinderlich für unseren geistigen Kampf. Die Autarkie, nicht nur in materiellen Dingen, sondern auch in bezug auf die Talente, die Gott uns anvertraut hat und die wir auszuwerten und zur Entfaltung zu bringen gerufen sind (s. Mt 25,14ff), nachdem wir sie einmal entdeckt und erkannt haben, ist das Ergebnis des Wirkens der göttlichen Gnade. Der Apostel Paulus war autark, wie er in seinem Brief an die Philipper sagt (Phil 4,11-12), denn er war reich an Gottesfurcht.
Das reine Gewissen kontrolliert und steuert von selbst den Lebenswandel des Menschen. Es gibt das, was man Hochherzigkeit[3] nennt, derzufolge ein Mensch das, was er tut, nicht zum Zweck menschlichen Lobs und vergänglicher Belohnung tut, sondern weil er sich selbst keine Lüge erlaubt und seine ganze Neigung, seinen ganzen Willen und sein ganzes Streben als Gabe darbringen will. Dies ist von jeher die große Sehnsucht der Heiligen gewesen, die sich Höhlen gruben in der Einsamkeit, um sich vor den neugierigen Blicken von Zuschauern zu verbergen und dem Menschenlob zu entrinnen. Sie rangen mit ihrem wechselhaften Selbst, besiegten es, gewannen es, unterwarfen es, und es folgte ihnen nach. Es gibt keinen Heiligen unserer Kirche, der nicht eine klare Erkenntnis seiner selbst gehabt hätte, denn hätte er sie nicht gehabt, wäre es ihm unmöglich gewesen, sich zur Gänze Gott und seinen Brüdern darzubringen.
Auch die Selbsterkenntnis hat drei Stufen - jene der Läuterung, jene der Erleuchtung, und jene der Vergöttlichung (Theosis). Läuterung bedeutet Praxis, die Befreiung von allem Fremden, Unreinen, Belastenden, Plagenden, Parasitischen, von allem Erworbenen und Schädlichen. Sie ist das Werk der Nepsis, der geistigen Nüchternheit, der Reinigung, die vollzogen wird durch die Askese. Sie ist eine Schürze, die unerläßlich ist für jeden Arbeiter des Evangeliums, das heißt für jeden Gläubigen. Die Askese, wie wir schon bei anderer Gelegenheit betonten, ist die vortreffliche Ökonomin der Seele. Sie sorgt nur für das Wichtige, das Nützliche und Unentbehrliche, und läßt alles Zweitrangige, Überflüssige und Unnötige beiseite. Fasten, Wachen und Gebet sind wirksame Hilfen auf dem Weg der Läuterung, während Metanie und freiwilliges Sündenbekenntnis dieselbe zur Vollendung bringen.
Metanie[4] bedeutet bekanntlich Änderung der Ansicht und der Gesinnung. Es darf uns nicht entgehen, dass sie erlangt wird durch die genaue Diagnose der eigenen Fehler. Das heißt, sie hat die Selbsterkenntnis als Ausgangspunkt. Jede Art von Sünde bedeutet Entfernung von Gott, Götzenkult dem Geiste nach, und sie ist offenkundig ein Sturz des Menschen. Die Metanie hingegen ist ein Geschenk Gottes und richtet den Menschen wieder auf.
Ohne Beichte kann es keine Metanie geben. Die Unterscheidung des Beichtvaters trägt massgeblich bei zur seelischen Wiederaufrichtung des Beichtenden. Er stellt die richtige Diagnose zur rechten Zeit und gibt ihm danach jene Weisungen, die ihm helfen, sich zu befreien von dem, was ihn plagt, von den "gern wiederkehrenden Leidenschaften", wie der heilige Johannes Klimakos so treffend sagt. Wir können mithin sagen, dass das Maß unserer Selbsterkenntnis zunimmt nicht so sehr durch Lektüren und andere menschliche Bemühungen, sondern hauptsächlich durch die Gnade des Heiligen Geistes und den Beistand des geistigen Vaters, der dieselbe ausgießt.
Erst dann, wenn einer geläutert worden ist, wird er erleuchtet von der göttlichen Gnade. Und hier, Geliebte, müssen wir sagen, dass das geistige Gesetz mit Strenge wirkt - damit Sich der Heilige Geist niederläßt, müssen die entsprechenden Bedingungen vorhanden sein. Das Heilige wird nur den Heiligen gegeben. Es liegt auf der Hand, dass solche Zustände nicht bei denen zu finden sind, die sich selbst zu den wenigen Auserwählten rechnen, zu den Großen im Geist. Die Erleuchtung kommt nur zu denen, die kämpfen. Ohne Kampf gibt es keinen Kampfpreis, wie der göttliche Chrysostomos sagt.
Im Zustand der Erleuchtung werden die Dinge deutlicher wahrgenommen. Die menschliche Kraft ist begrenzt. Die Erleuchtung zeigt dir, dass du das tun sollst, was du vermagst, nicht das, was du nicht vermagst.
Ohne Kampf, ohne Gehorsam gegenüber einem geistigen Vater, ohne Demut und Gebet können wir auch trügerische Erleuchtungen haben. Der Dämon selbst verkleidet sich als Engel des Lichts, läßt Träume aufziehen, Visionen, Lichter und Offenbarungen, und du Unglücklicher meinst, du seist erleuchtet, während du in Wirklichkeit gründlich verfinstert bist. Deshalb ist große Vorsicht geboten. Diese Vorsicht erlaubt auch keine Begegnung mit den Lehrern der östlichen Religionen, den Lehrern einer Selbsterkenntnis, Erleuchtung, Leidenschaftslosigkeit und Ruhe, die, so müssen wir offen sagen, eindeutig dämonischer Herkunft sind.
Wenn die wirkliche göttliche Erleuchtung kommt, meine Geliebten, wird der Mensch erneuert, getröstet. Es ist ein erster göttlicher Besuch, und zu jener Stunde kannst du nicht anders als dich freuen, Gott danken und Ihn verherrlichen, deine vergangenen Mühen segnen, die dir im Vergleich zu diesem Vorgeschmack des Paradieses gar geringfügig und nicht der Rede wert erscheinen.
Die Vergöttlichung ist die nächste Stufe, die dich sicher in die Arme Gottes führt. Dort kommt alles zur Ruhe - Sorgen, Ängste, Fragen, Zwiespalt, Zweifel, Ratlosigkeit. Der vergöttlichte Mensch kennzeichnet sich durch Gnade, Freiheit und Ausgeglichenheit. Er ist transfiguriert und strahlt, er ist dorthin gelangt, wo er sich zu sein sehnte. Er weiß es und weiß es nicht. Das soll kein Wortspiel sein, sondern es verhält sich tatsächlich so, dass der Heilige niemals sagen wird, er sei heilig. Sagt er es, so zeigt das, dass er nicht heilig ist. Die Vergött­lichung ist keine menschliche Errungenschaft, sondern ein Geschenk Gottes, wie der heilige Kyrillos von Alexandria betont. Und gemäß dem hl. Gregor dem Theologen wird sie je nach der Empfänglichkeit des Menschen gewährt. Leider verschleudert der Mensch seine erhabene Fähigkeit zur Vergöttlichung aus seinem eigenen freien Willen in profanen Werken. Doch wie gesagt kann die Askese wieder gutmachen, was die menschliche Oberflächlichkeit und Entgleisung bewirkt hat, und den Aufruhr der Leidenschaften ersetzen durch den Frieden der Tugenden.
Leidenschaftslosigkeit und Vergöttlichung sind unzertrennliche Freundinnen. Der Leiden­schaftslose wird zum Vergöttlichten, von der Erde wird er in die Ruhe der himmlischen Bereiche versetzt, wie Klemens von Alexandria sagt. Die Tugenden sind der verborgene Schmuck des Leidenschaftslosen. Es trifft zu, dass die Mönche in höherem Maß geschützt sind von Ablenkungen und in Askese leben, weshalb sie auch in höherem Maß die Erleuch­tung und die Vergöttlichung empfangen. Die Wüsten mit ihrem Mangel an menschlichen Tröstungen werden zu Kampfbahnen und Pfaden, zu Orten der Gottesschau, göttlichen Glanzes und göttlicher Freude.

Erkenntnis des Bruders
Νun kommen wir zum zweiten Teil unseres bescheidenen Vortrags, zu einem Thema, über das zwar viel diskutiert wird, das aber nach wie vor zu schaffen macht, schmerzt und verwirrt. Was bedeutet "Erkenntnis des Bruders"? Warum sagen wir nicht "Erkenntnis des Anderen"? "Erkenntnis des Anderen" ist eher ein philosophischer und soziologischer Begriff. "Erkenntnis des Bruders" aber ist ein christlicher Begriff, und dieser ist es, der uns angemessen ist.
Als Kinder des himmlischen Vaters sind wir alle Brüder eines des anderen. Wie der heilige Johannes Chrysostomos sagt, sind wir Brüder geworden durch die Inkarnation des Herrn. Der heilige Isidoros von Pelusion für seinen Teil bemerkt mit geistigem Lächeln, dass Brüder in allem gleich sind, mit Ausnahme des Demütigen, der die anderen überragt.
Erkenntnis des Bruders bedeutet selbstlose Liebe für ihn, wer er auch sei. Die Begegnung mit dem Bruder geschieht auf drei Wegen - jenem des Annehmens, jenem des Erbarmens und jenem des Dienens.
Annehmen bedeutet zuallererst, den Bruder aufrichtig zu akzeptieren, bejahend sein ihm gegenüber. Es bedeutet, dass ich ihn als meinen Bruder anerkenne, ihm zuhöre, auf ihn achte, auf ihn eingehe, dass ich versuche, tiefer zu sehen als die Worte, dass ich ihn frohgemut ertrage. Ich behaupte nicht, dass er unfehlbar oder heilig sei. Natürlich ist er unvollkommen, so wie auch ich selbst es bin. Doch ich verhalte mich ihm gegenüber so, wie auch ich möchte, dass man sich mir gegenüber verhält. Steht es nicht auch so im Evangelium? (Mt 7,12) Und der Apostel sagt: "Wenn du das Gottesbild nicht ehrst in deinem Mitmenschen, den du täglich siehst, wie willst du den unsichtbaren Gott anbeten?" (vgl. 1 Joh 4,21).
Annehmen und Bejahen des Bruders bedeutet Hinaustreten aus dem Egozentrismus, aus dem Individualismus, der Einsamkeit. Die Begegnung mit dem Anderen sollte ein Segen sein. Oft aber wird sie zum Anlaß von Frostigkeit, von Zank, Streit, Betrübnis und Absonderung. Geduld gegenüber den Schwierigkeiten des Anderen ruiniert die Ränke des Dämons, sie verschafft dem Bruder Linderung, ermutigt und stärkt ihn in seinem Bemühen, sein Kreuz zu tragen. Sie ist die Freude der Engel.
Almosen soll man mit brüderlichem Mitgefühl geben, nicht mit Herablassung, die von großem Hochmut zeugt. Die Gabe darf den Empfangenden nicht verletzen in seiner Würde und den Gebenden nicht zur Angeberei veranlassen, denn so verliert er seinen Lohn. Die Unterstützung der Bedürftigen ist unsere eigene Unterstützung für morgen, sie ist ein Darlehen an Gott, wie die Heilige Schrift sagt (Spr 19,17). Und wie sie an anderer Stelle hervorhebt, wird uns dieses Darlehen mit vielfachen Zinsen zurückgezahlt werden. Die mannigfache Bedürftigkeit des Nächsten - des Invaliden, des ins Unglück Gefallenen, des Geschädigten, des Kranken, des Behinderten, des Geistesschwachen, des Melancholischen, des Armen, des Arbeitslosen, der Witwe, der Waise - gibt dem Erbarmenden Gelegenheit zum Erlangen einer ungewöhnlichen und großen Freude, zur Begegnung mit seinem verachteten Bruder, zur Erkenntnis und Einsicht, dass seine eigenen Probleme möglicherweise viel geringer sind als jene des Bruders, dass alle Menschen ihr Kreuz tragen. So gibt es ihm Anlaß zur Danksagung an Gott.
Es versteht sich von selbst, dass die Begegnung mit dem Anderen auf dem Weg des Almosengebens ohne Makel sein muß, das heißt, dass sie weder auf Gegenleistung und Ausbeutung des Beschenkten zielen noch als öffentliche Werbung für den Geber mißbraucht werden darf, denn sonst wird das Almosengeben zu einem Greuel vor Gott, wie das Evangelium zeigt (s. Lk 18,10ff).
Oft ersteht die Frage, ob man dem berufsmäßigen Bettler geben soll, dem notorischen Faulenzer, der Ansprüche nur an die anderen stellt und wie ein Parasit von den Mühen anderer lebt, dem Trunkenbold und Drogensüchtigen. Der Zweck des Almosengebens, meine Geliebten, ist nicht nur die materielle Wohltat, sondern auch die geistige. Wenn wir deshalb klar sehen, dass unsere Gabe mißbraucht wird zum Schlechten und nicht dem Guten dient, dann und nur dann sollen wir gebührende Vorsicht üben.
Ebenso selbstverständlich ist, dass das, was der Gebende nicht fordern darf, vom Empfangenden unbedingt erbracht werden muß (s. Mt 18,23ff). Der Herrenbruder Jakobus sagt, dass Gott erbarmungslos sein wird mit dem Erbarmungslosen (s. Jak 2,13). Der hl. Theophilos von Antiochia erklärt sogar, dass nur jener, der Barmherzigkeit übt, die göttliche Weisheit zu begreifen vermag. Der heilige Johannes von Damaskus empfiehlt das Almosen­geben allen und ermahnt uns, die Last unseres Bruders zu tragen und uns nicht zu ärgern über ihn, sondern ihm auf jede Weise zu helfen.
Das Annehmen des Bruders und das Erbarmen ihm gegenüber, das begreift mit aller Klarheit, meine Geliebten, erfordern ständige Darbringung an den Anderen, von Herzen kommendes Dienen, Opfer aus ganzer Seele, Martyrium dem Gewissen nach, Selbstlosigkeit,welche die Ränke des gottwidrigen Egoismus zunichtemachen. Mit diesem Werk geht die Selbstverleugnung einher. Nur dann, wenn wir die zwischenmenschlichen Beziehungen, die heutzutage so sehr gestört sind, aus diesem Blickwinkel betrachten, können sie sich wandeln, zu Beziehungen von lebenslanger Dauer und starker Liebe werden, sodass Bindungen und Freundschaften nicht länger Fesseln und Knechtschaft sind.
Bei diesem christlichen Verständnis der Brudererkenntnis sind die zwischen­menschlichen Beziehungen nicht abhängig von irgendwelchen Interessen, sie dienen nicht dem Erlangen von Reichtum, Genuß, Glück und Ehre, sondern tragen bei zu unserer Befreiung vom Übel der Ausbeutung des Anderen, seiner Benutzung zu unserem eigenen Vorteil, und so wirken wir mit am Heil in Christus unserer Brüder. Die Befriedigung, die der freie und gesunde Christ erfährt, der so denkt, ist unvergleichlich größer als jeder irdische Genuß, wie die Väter des Heiligen Bergs sagen.
Altvater Moses

Erkenntnis Gottes
Wenn der Mensch nicht sich selbst und seinen Bruder erkennt, kann er, wie wir schon bemerkten, Gott nicht nur nicht erkennen, sondern sich Ihm auch nicht nähern. Denn von Gotteserkenntnis kann keine Rede sein, solange die Voraussetzung der Selbsterkenntnis Voraussetz und der Brudererkenntnis nicht erfüllt ist. Die Erkenntnis Gottes, die Begegnung mit Gott, ist mit Sicherheit nicht die Angelegenheit wissenschaftlicher Theologen. Wir kennen Gott durch Seine ungeschaffenen Energien. Wir sehen das Licht, und durch dieses erkennen wir die Sonne, sagt der heilige Gregor Palamas. Der echte Seelenfriede, die Ruhe, die Freude, die Gelassenheit, die Langmut, die Sanftmut und die anderen Gnaden-gaben des Heiligen Geistes machen die Gegenwart Gottes in unserem Leben wahrnehmbar.
Erwarten wir nicht spektakuläre und aufwühlende Ereignisse, um uns die Gegenwart Gottes anzuzeigen. Oftmals sind Seine Besuche vielmehr so still und unauffällig, dass man sich verwundert über die Subtilität und Sanftheit dieses Großen Gottes, Der dein persönlicher Vater ist.
Die beste Art der Begegnung des Menschen mit Gott ist durch das Gebet. Dieses demüti­ge und innige Zwiegespräch ist eine der höchsten Segensgaben Gottes an den Menschen. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, das Recht, die Gelegenheit zu diesem ungehinderten und mühelosen Bitten. Es gibt keine Schranke, es braucht kein Typikon, keine besondere Ordnung und große Vorbereitung, sondern allein Bereitwilligkeit und Demut, und alles weitere geht danach mit Leichtigkeit vonstatten. Die Opposition, der Widerstand, die Nachlässigkeit des Menschen gegenüber diesem schönen und göttlichen Werk, sein Hinausschieben auf die lange Bank, bilden den Anfang vieler Schwierigkeiten und Komplikationen.
Indem wir Gott und unseren Bruder lieben, lieben wir auch uns selbst, wirken wir doch auf diese Weise unser Heil. Die Liebe macht uns Gott ähnlich, Der die Quelle der Liebe ist. Ohne Liebe sind alle unsere Werke nichtig, sogar das Martyrium für Christus.
Das Gebet wird uns die Geheimnisse der Liebe lehren. Der Betende kann nicht umhin, auch ein Liebender zu sein. Doch das Beten erfordert Glut und Beharrlichkeit. Die Glut kommt mit der inneren Ergriffenheit,[5] und die innere Ergriffenheit kommt mit dem Bedenken unserer Sündhaftigkeit und der langmütigen Liebe Gottes. Die Beharrlichkeit im Gebet stellt unser Gottvertrauen auf die Probe, unseren Glauben an Seine Worte, unser Festhalten an unserem Gelöbnis. So lernen wir das Warten, notwendig aus Gründen, die Gott mit Sicherheit besser weiß als wir, das Ablegen der Oberflächlichkeit und der Hast, jener Plagen des modernen Menschen. Das Gebet ist mithin eine Schule, in der wir unseren himmlischen Lehrer und Vater kennenlernen.
Die beste Art, in diese Schule einzutreten, ist wie schon erwähnt das Vorzeigen unserer Identitätskarte, was nichts anderes bedeutet als Demut.
Demut macht uns zuversichtlich im Gebet und furchtlos im Leben. Mit der Demut nähern wir uns dem Bruder ohne Heuchelei, freimütig, und ebenso nähern wir uns Gott mit Leichtigkeit und Frohmut. Die Demut ist das, was dem Menschen hilft, die Hilfe Gottes zu erlangen, sagt der heilige Maximos der Bekenner. Die Demut ist das milde Klima, in welchem das Gebet und die Liebe gedeihen und sich entwickeln. Ohne die Demut leidet der Mensch, selbst wenn er allein ist, und wenn er mit anderen zusammen ist, ergeht es ihm noch schlimmer. Und Gott wird er ohne Demut niemals begegnen. Wenn der Mensch nicht ins Reine kommt mit sich selbst auf dem Fundament der Demut, wird er auch mit den anderen nie ins Reine kommen, noch auch mit Gott, und selbst wenn er sich auf dem Gipfel des Athos befände, würde er, wie man auf dem Heiligen Berg in Einfachheit sagt, "mit seinen eigenen Kleidern streiten".
Indem einer zur Demut findet, lernt er zu lieben und wird spontan auch selbst geliebt. Die echte Demut zieht selbst den widerwilligsten Menschen an, ist sie doch der Schmuck der Gottheit, wie der heilige Basilios der Große sagt, und nichts ist höher als sie. Die Liebe geht einher mit der Demut und bringt sie zur Vollendung.
Alle Väter unserer Kirche haben sie besungen und ihr lange und bedeutsame Reden gewidmet. Die Heiligen der Kirche sind durchtränkt mit Gebet, Demut und Liebe. Durch die Kommunion mit den Heiligen gelangt der Mensch zur wahren Gotteserkenntnis.
Die Liebe nimmt im Evangelium und infolgedessen auch im Leben der Heiligen eine überragende Stellung ein. Gott liebt den Menschen und wird Mensch, um ihn zu Gott zu machen. In diesem oft zitierten und frei wiedergegebenen Satz des heiligen Gregors des Theologen[6] verbirgt sich das ganze Mysterium der göttlichen Heilsökonomie, der Selbst­entäußerung des Logos Gottes, der unaussprechlichen Liebe des Erlösers für Sein irregeführtes Geschöpf.
Der heilige Isidoros von Pelusion schreibt, dass es für Gott nichts Wichtigeres gibt als die Liebe, wurde Er doch um ihretwillen Mensch und gehorsam bis in den Tod.
So zeigte sich die Liebe Gottes für den Menschen, und sie fährt fort, sich zu zeigen durch die ständige Gegenwart des Paraklets, des Heiligen Geistes, im Leben der Kirche und im Leben der Gläubigen. Die Liebe des Menschen zu Gott zeigt sich durch den Gehorsam gegenüber Seinem Willen - Gehorsam nicht aus Angst und sklavischer Unterwerfung, sondern aus Liebe, weil wir Seine Kinder sind, wie der heilige Basilios der Große sagt. Derselbe betont an anderer Stelle, dass diese Liebe vollkommen sein muß, gemäß dem Wort Gottes Selbst (s. Joh 13,34 / Mt 5,48), unlösbar verbunden mit dem Glauben und voller Glut. Achten wir sorgfältig darauf, sie nicht erkalten zu lassen, und dies gewährleisten wir, indem wir uns ständig die vielen Wohltaten Gottes vor Augen halten.
Über die Liebe zum Nächsten haben wir bereits gesprochen, doch nun müssen wir darauf zurückkommen, um sie mit der Liebe Gottes für den Menschen und unserer Liebe zu Gott zu verbinden. Die Liebe zum Nächsten drückt sich nicht nur aus durch Almosengeben und andere gute Taten, philanthropische Werke, sondern auch durch Gastfreundschaft, Wohl­wollen, Freundschaft, Versöhnlichkeit, Einmütigkeit, Eintracht, Zartgefühl, Gleichheit, Gerechtigkeit, Nachsicht, Aufrichtigkeit und Freude. Klemens von Alexandria nennt die Liebe tolerant, langmütig, friedlich, vollkommen, sündenlos, unsterblich, sie vergöttlicht, tröstet, hilft, nimmt sich der Armen an und behütet.
Ohne solche Liebe ist der Mensch verurteilt zu Verwirrung, Unruhe und Finsternis. Ohne sie kann er niemals wahrhaft glücklich sein. Seligkeit und echte Freiheit können sich nicht niederlassen in ihm. Die Weisheit und Gutheit Gottes hat alles gut und zum Guten erschaffen. Wie schade, die Harmonie von Gottes Schöpfung zu zerstören und das Böse in unser Leben und in die Welt zu tragen! Doch das Christentum ist stets von Hoffnung beseelt und hat im Lauf seiner Geschichte niemals eine Position der Hoffnungslosigkeit eingenommen. Das Böse ist nicht unbesiegbar. Seine Macht ist zeitlich begrenzt. Am Ende wird es vernichtet werden, wie es in der Offenbarung heißt (Offb 20,10ff). Sogar dieser Tod selbst, das größte Übel im Leben des Menschen, ist besiegt worden durch den Tod Christi, der uns das ewige Leben geschenkt hat.
Nach orthodoxer Lehre kann das Böse nur in der inneren Neigung und im freien Willen des Menschen existieren. Das Böse im Menschen hat seinen Ursprung im schlechten Gebrauch des freien Willens, der ihm von Gott gegeben worden ist. Und es wird ausziehen wie der Wurm aus der Frucht, wenn wir die Ursache der Krankheit des Baumes heilen. So können wir denn sagen, dass der Allweise und Allgute Gott selbst dieses Böse als Diener des Guten benutzt, um den Wert des Guten und den Unwert des Bösen deutlich sichtbar zu machen und den Menschen so zu seiner Vervollkommnung zu führen.
Dieser ganze Kampf des Gläubigen führt ihn zu Integrität, Gesundheit, Tauglichkeit, Reinheit und Rechtschaffenheit. Der Widerwille hingegen, sich diesem Kampf hinzugeben, führt den Menschen zu Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit, Entmutigung, Schlaffheit, Mittel­mäßigkeit, Faulheit, zu einem routinemäßigen Dasein. Dies ist der Zustand, der Akedie genannt wird. Die Akedie setzt nach dem heiligen Maximos dem Bekenner alle übrigen Leidenschaften in Bewegung und hindert den Menschen an einer klaren Erkenntnis seiner selbst, der Mitmenschen und Gottes. Die Akedie immobilisiert die Gaben, die der Mensch von Gott empfangen hat, und macht es ihm unmöglich, sie in heilsamer Weise zu kultivieren und zur Entfaltung zu bringen, sodass sie ihm vielmehr zum Unheil werden.
Nachlässigkeit ist eine todbringende Sünde, denn das Christentum ist nicht eine Theorie, sondern allem voran Praxis und Leben. Der Gläubige ist gerufen, für sein Heil, das heißt für die Essenz seines Daseins, zu kämpfen mit aller Kraft, unter Darbringung jeden Opfers. Die Akedie ist auch bei den Mönchen nicht unbekannt, ja, sie bekämpft sie sogar in besonderem Maß und mit besonderer Raffinesse, und sie wiederum bekämpfen die Akedie auf gleiche Weise von alters her bis heute, wie alle asketischen Schriften zeigen.
Erlaubt mir, meine Geliebten, zu sagen, dass das große Spiel unseres Lebens in der Tiefe unserer Herzen gespielt wird. Wählen wir daher den Weg des Kampfes, der uns hienieden schon zum wahren Frieden führt, dem Frieden, der alles Begreifen übersteigt (Phil 4,7), fernab von einem elenden Dasein, das uns schliesslich unerträglich wird. Der gute Gott wird von uns Rechenschaft verlangen nur für das, wozu wir imstand waren, nicht für das, was uns von Natur aus unmöglich war. Lassen wir daher die Vorwände beiseite, setzen wir dem Hinausschieben ein Ende und tun wir das, was möglich und durchführbar ist.


Wir beschließen diese Betrachtungen - die, so hoffen und wünschen wir von Herzen, zum Ausgangspunkt innigeren Bemühens werden möchten in der Stille unseres eigenen Orts, die wir unbedingt finden müssen - mit den Worten von Starez Nikon vom Kloster Optina im heute auferstandenen Rußland: "Niemand und nichts kann dem Menschen schaden, sofern er selbst sich nicht schadet.7 Umgekehrt kann nichts dem Menschen nützen, selbst wenn ihm tausend Mittel des Heils und Tausende von Gelegenheiten geboten würden, sofern er nicht die Sünde flieht. Eines nur ist das Übel in dieser Welt - die Sünde. Judas stürzte, obwohl er ständig mit dem Erlöser zusammen war, und der gerechte Lot wurde gerettet, obwohl er mitten in Sodom lebte."



1) Vortrag des Altvaters, gehalten 1993 im Kulturzentrum der Hl. Metropolis Kydonias & Apokoronas, Chania (Kreta), auf Einladung des damaligen Metropoliten und heutigen Erzbischofs von Kreta, Irenäos. Dt. Übersetzung Kloster des Hl. Johannes des Vorläufers, Chania 2010.
2) Der griech. Begriff Autarkie (wörtl. "Selbstgenügen") wird hier vom Altvater so benutzt, wie es auch der Apostel
Paulus tut im Philipperbrief (Phil 4,11-12), im Sinn von "sich begnügen mit dem, was man hat, zufrieden sein mit dem Vorhandenen".
3) Griech. φιλότιμο. Dieser vieldeutige griechische Begriff wird von Altvater Moses im Sinn von Gerontas Paissios benutzt: "Philotimo ist die ehrwürdige Essenz der Gutheit, die überaus dankbare Liebe des demütigen Menschen,
der in allem, was er tut, sich selbst völlig aus dem Spiel läßt und dessen Herz erfüllt ist von geistigem Feingefühl,
von Empfindsamkeit und Dankbarkeit gegenüber Gott und dem Bild Gottes, seinen Mitmenschen. Der Feind des philotimo ist die Selbstliebe." (Λόγοι Γέροντος Παϊσίου Bd. 5, S. 255/258). 
4) Griech. μετάνοια
5) Griech. Κατάνυξη.
6) Dem Ausspruch begegnet man schon beim hl. Irenäos von Lyon (2. Jh.).
7) Berühmter Spruch des hl. Johannes Chrysostomos und Titel einer seiner Homilien (Gr. in EPE JohChrys Bd. 31).

Quelle: prodromos-verlag

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