1. Ein Altvater pflegte auf die Wände seiner Zelle vielerlei Worte und Gedanken zu schreiben, und als man ihn fragte, was dies sei, antwortete er: "Dies sind die Gedanken der Gerechtigkeit, die vom Engel kommen, der bei mir ist, sowie die rechten Gedanken der Natur, die sich in mir selbst regen. Ich schreibe sie nieder zur Stunde, da sie kommen, damit ich mich zur Stunde der Verfinsterung in sie vertiefen kann und sie mich befreien von der Täuschung."
2. Ein anderer Altvater wurde von seinen eigenen Gedanken selig gepriesen, weil er "statt der vergänglichen Welt der unvergänglichen Hoffnung gewürdigt" worden sei. Der Altvater antwortete ihnen: "Solange ich noch auf dem Weg bin, lobt ihr mich umsonst. Noch bin ich den Weg nicht bis ans Ende gegangen."
3. Wenn du ein vorzügliches Tugendwerk vollbringst, doch die Süße seiner Hilfe nicht kostest, wundere dich nicht. Denn bis der Mensch sich demütigt, empfängt er den Lohn seines Werkes nicht, wird doch der Lohn nicht für das Werk gegeben, sondern für die Demut. Wer die letztere verachtet,verliert das erstere. Derjenige, dem es gelungen ist, auch den Lohn zu erlangen für seine guten Werke, ist höher als jener, der bloß das Werk der Tugend hat. Die Tugend ist die Mutter der Trauer, aus der Trauer wächst die Demut, und der Demut wird die Gnade geschenkt. Deshalb wird mit dem Entgelt nicht die Tugend vergolten, noch auch die Bemühung um sie, sondern die aus beiden geborene Demut. Fehlt die letztere, sind die beiden ersteren umsonst.
4. Das Werk der Tugend besteht im Einhalten der Gebote des Herrn. Die Essenz dieses Werks ist die rechte Ordnung des Denkens, die zustande kommt durch Demut und Achtsamkeit.
Wenn die Kraft zur Ausführung der Tugendwerke fehlt, wird an derenStelle jene zweite angenommen-Denn Christus verlangt von der Seele nicht das Werk der Gebote als solches, sondern die Berichtigung der Seele, gab Er doch die Gebote zu diesem Zweck. Die Werke des Körpers können sowohl durch die Rechte getan werden als auch durch die Linke, das Denken aber wird je nach der Absicht gerechtfertigt oder verurteilt. Es gibt solche, die in der Weisheit Gottes vermittels der Dinge der Linken das Werk des Lebens tun,geradeso wie es solche gibt, die unter der Maske göttlicher Beschäftigungen die Sünde tun.
5. Die Fehler von Menschen, die auf sich selbst achten, sind für diese Hüter der Gerechtigkeit. Eine Gnadengabe wird für den, der sie empfängt, zum Verderben, wenn sie nicht einhergeht mit Prüfungen. Wenn du Gutes tust in den Augen Gottes und Er dir eine Gnadengabe gewährt, bitte Ihn, dir auch die Erkenntnis zu schenken, wie du dich demütigen sollst, oder dann, dir einen Wächter zur Seite zu stellen oder dir die Gnadengabe wieder wegzunehmen, damit sie dir nicht zum Anlaß werde für dein Verderben. Denn es ist nicht allen gegeben, solchen Reichtum zu bewahren ohne Schaden.
6. Die Seele, die die Sorge um die Tugend empfangen hat und in Genauigkeit der Askese und in Gottesfurcht lebt, kann nicht ohne tägliche Trauer sein. Denn in solchen Seelen sind Tugend und Trauer eng miteinander verwoben. Wer heraustritt aus den Bedrängnissen,trennt sich zwangsläufig auch von der Tugend. Sehnst du dich nach der Tugend, dann gib dich jeder Bedrängnis hin. Denn die Bedrängnisse sind es, die die Demut gebären. Gott will nicht, dass die Seele ohne Sorge sei,und wer ohne Sorge sein will, findet sich mit seinem Trachten außerhalb des göttlichen Willens. Mit Sorge meinen wir hier selbstverständlich nicht jene um die leiblichen Dinge, sondern jene um die Dinge, die Schmerz bereiten und einhergehen mit den guten Werken.
Bis wir zum wahren Wissen gelangen, das heißt zur Offenbarung der Mysterien, nähern wir uns der Demut durch Prüfungen. Derjenige, der ohne Bedrängnisse in seiner eigenen Tugend steht, hat das Tor zum Hochmut offen vor sich.
7. Welcher Mensch also begehrt in seinem Sinn, ohne Trauer zu sein? Das Denken des Menschen kann nicht in der Demut verharren, wenn er nicht Schläge empfängt, und ohne Demut ist er nicht imstand, auf reine Weise im Gebet zu Gott zu verweilen. Zuerst entfernt sich der Mensch in seinem Sinn von der unerläßlichen Sorge, und danach nähert sich ihm der Geist des Hochmuts, und wenn dieser in ihm verbleibt, entfernt sich der Engel der Fürsorge von ihm, jener Engel, der ständig bei ihm war und in ihm die Sorge um die Gerechtigkeit in Bewegung hielt. Wenn der Mensch jenen Engel betrübt, sodass er sich entfernt von ihm, nähert sich ihm der Fremdstämmige, und von da an bleibt in ihm nicht die geringste Sorge um Gerechtigkeit übrig.
8. Vor dem Zusammenbruch kommt der Hochmut, sagt der Weise (Spr 16,18und 18,12), und vor der Gnadengabe kommt die Demut. Das Maß des Zusammenbruchs, der als Züchtigung von Gott her über die Seele kommt, entspricht dem Maß des Hochmuts, der in ihr gefunden ward.
9. Hochmut liegt nicht dann vor, wenn einem dessen Gedanke durch den Kopf geht, noch auch dann, wenn einer hin und wieder vom Hochmut besiegt wird, sondern dann, wenn sich dieser im Menschen festsetzt. Im ersten Fall folgt hinterher die Reue, doch derjenige, der den Hochmut liebt, weiß nichts von Reue.
Unserem Gott aber gehört die Herrlichkeit und Majestät in die Ewen. Amen.
Quelle: www.prodromos-verlag.de
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