Mit diesem Begriff [Askese] wird nicht ein Lebensweg vorgezeichnet, und er schließt nicht von sich aus Keuschheit, Fasten oder Einsiedelei ein.
Askese, oder geistliche Aufopferung, nennt man ein von Arbeit an sich selbst erfülltes Leben, dessen Ziel die Vernichtung seiner Leidenschaften ist: Wollust, Ehrgeiz, Bosheit, Neid, Völlerei, Faulheit usw., und die Erfüllung der Seele mit dem Geist der Keuschheit, der Demut, der Geduld und der Liebe, welche niemals eine alleinstehende Tugend, sondern nur die Begleiterin und Vollführerin der aufgeführten Eigenschaften der Seele ist.
Natürlich wird ein Christ, der seinen Weg gehen will, selbst einsehen, daß er sich von der weltlichen Zerstreuung abwenden, den Körper demütigen, viel zu Gott beten muß - aber diese Aufopferungen haben keinerlei endgültigen Wert in den Augen Gottes, sondern bekommen diesen nur für uns selbst als Bedingung für das Erlangen geistlicher Gaben. Einen viel größeren Wert haben geistliche Aufopferungen, welche im Bewußtsein des Menschen ablaufen: Selbsttadel, Selbsterniedrigung, Selbstwiderstand, Selbstnötigung, Selbstprüfung, Vorhaltung des Lebens im Jenseits, Kontrolle über die Gefühle, Kampf mit schlechten Gedanken, Reue und Beichte, Zorn auf die Sünde und die Versuchung und so weiter - all die Übungen, die unseren modernen und gebildeten Menschen so fremd sind und jedem einfachen Dörfler, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart, so klar vor Augen stehen.
Genau dies ist das geistliche Alphabet, von welchem Bischof Tichon [von Zadonsk, +1783, heiliggesprochen] spricht, und genau darin besteht der essentielle Gehalt des wahren Christentums als Aufopferung des Lebens, ein Gehalt, der ... im Zentrum orthodoxer theologischer Literatur steht, welche die ganze Göttliche Offenbarung, alle biblischen Ereignisse und Parabeln in erster Linie in Hinsicht auf deren Anwendung beim stufenweisen Erreichen geistlicher Vollkommenheit interpretiert.
Durch Seine Inkarnation, Seine Demütigung und Sein Leiden für unsere Sünden brachte uns der Erlöser durch Seine Person und Gemeinschaft mit Ihm die Möglichkeit eben dieser geistlichen Betätigung, und in diesem erschließt sich unser Weg zur Erlösung. Die einen gehen diesen Weg freiwillig und bewußt (Phil. 2, 12), indem sie ein geistliches Leben verbringen, andere leben es fast gegen ihren Willen, ändern sich durch die von Gott gesandten Leiden und die kirchliche Disziplin, wieder andere reinigen erst kurz vor ihrem Tod ihre Zerstreuung durch Beichte und erlangen Erleuchtung im Jenseits; das Wesen der christlichen Aufopferung besteht jedoch in der Askese, in der Arbeit an der eigenen Seele; darin auch besteht das Wesen der christlichen Theologie. (...) Das Christentum [ist] eine asketische Religion..., das Christentum [ist] die Lehre von der schrittweisen Abstoßung der Leidenschaften, über die Mittel und Bedingungen allmählicher Erlangung von Tugendhaftigkeit ...; diese Bedingungen sind einerseits innere, bestehend aus Aufopferung, andererseits von außen kommende, bestehend aus unseren dogmatischen Grundsätzen und gnadenerfüllten Mysterien, die alle die eine Bestimmung haben: nämlich die menschliche Sündhaftigkeit zu heilen und uns zur Vollkommenheit empor zu führen.
Metropolit Antonij
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