Montag, 5. Mai 2014

Heiliger Justin von Celije- Die Orthodoxe Philosophie der Wahrheit

"Ich werde nichts sagen, was von mir selbst stammt, 
sondern zusammenfassendniederschreiben,
was weise und göttliche Männer 
an verschiedenen Orten gesagt haben."
-Johannes vonDamaskus, Philosophische Kapitel, 2.


Auf dem Weg vom Nichtsein zum Allsein wandert der Mensch durch Gottes übernatürliche Mysterien, die gekleidet sind in wundersame Formen der geschaffenen Materie und des Geistes. Je weiter er sich entfernt vom Nichtsein und  sich dem Allsein nähert, desto mehr hungert ihn nach Todlosigkeit und Sündelosigkeit, desto mehr dürstet ihn nach Wandellosigkeit und Ewigkeit. Doch die Sünde zieht ihn tyrannisch zurück zum Nichtsein und beraubt die Seele gierig durch den Tod. Dieganze Weisheit des Lebens besteht darin, das Nichtsein zu besiegen, innen und aussen, und zur Gänze einzutauchen in das Allsein. Dies ist die Weisheit, die die Philosophen des Heiligen Geistes lehren. Es ist Weisheit und Wissen  -die gnadenerfüllte  Weisheit und das gnadenerfüllte Wissenbezüglich der Natur des Seins, deren Brennpunkt die Erkenntnis der göttlichen und der menschlichen Dinge, der sichtbaren und der unsichtbaren Dinge ist. Die Philosophie des Heiligen Geistes ist auch die schöpferische  ethischeKraft, die des Menschen göttliche Erkenntnis Gottes, der Welt und der Menschheit vervielfacht und  ihn auf dem Weg des gnadenerfüllten asketischen Fortschritts Gott gleich werden läßt. Diesen ethischen Charakter der orthodoxen Philosophie unterstreicht der heilige Johannes von Damaskus, wenn er sagt:  "Philosophie bedeutet das Gott-gleich-Werden", und deshalb ist sie "die Kunst der Künste und die Wissenschaft der Wissenschaften". 

Als die lebenspendendePhilosophie des Heiligen Geistes ist sie die einzige Kunst, die aus dem facettenreichen und komplexen menschlichen Wesen eine Gott gleiche und Christus gleiche Person zu formen vermag. Als Wissenschaft des Heiligen Geistes ist sie die einzige Wissenschaft, die das in sich selbst gefangene und sterblich gewordene Geschöpf, das man Mensch nennt, zu lehren vermag, wie es den Todbesiegen und die Unsterblichkeit erlangen kann. Dies also ist der Grund, warum die orthodoxe Philosophie die Kunst der Künste und die Wissenschaft der Wissenschaften ist.
Die Philosophie des Heiligen Geistes  besteht aus ewigen Wahrheiten über Gott,  die Welt und den Menschen, die in der evangelischen Sprache der Kirche  Dogmen  genannt werden. Dogmatik ist mithin die Philosophie und Wissenschaft von Gottes ewigen Wahrheiten, die den Menschen offenbart worden sind, damit sie dieselben in ihrem Leben inkarnieren und so den ewigen Sinn ihres Daseins verwirklichen, ihre mühsame Wanderung vollziehen vom Nichtsein zum Allsein. 
Doch es ist offenkundig, dass der Sinn des zeitgenössischen Menschen für Unsterb-lichkeit und Ewigkeit gelähmt und seine Wahrnehmung der Ewigkeit und Gottmensch-lichkeit alles Menschlichen getrübt ist. Eingeschläfert und gefangen vom metaphysischen und ethischen Relativismus, endet der zeitgenössische Mensch gewöhnlich in einem allumfassenden Nihilismus. 
Doch sobald einer aufwacht aus dem Alptraum des Relativismus, sobald er die wunderbare Wirklichkeit des Ewigen und Todlosen entdeckt, findet er in sich selbst stets Kraft, um sich emporzuschwingen zur ewigen Wahrheit über die Welt und den Menschen. 
In dem Augenblick, wo eine  ewige Frage auftaucht in der Seele des Menschen, öffnet sich in ihm wie ein Abgrund  ein heftiges und unlöschbares Verlangen nach der ewigen Wahrheit.  Und von da anjagt ihn der Hunger und Durst nach Erkenntnis durch die Wüsten des Daseins zu jener Oasehin, wo die ewigen Wahrheiten wachsen, wo jene Quelle lebendiger Wasser aufsprudelt zum ewigen Leben. 
In dieser neuen Verfassung verwandelt sich der Mensch in einen Pfeil der Sehnsucht, derdahinfliegt zu dem, was todlos und ewig, göttlich und heiligist. Vom Menschlichen wendet er sich hin zum Gottmenschlichen. Und je mehr Gottes Wahrheiten einströmenin seine Seele,  desto mächtiger fließt das Leben in ihm, denn  in ihrergottmenschlichen Wirklichkeit sind Leben und Wahrheit, ewiges Leben und ewige Wahrheit, ein und dasselbe.
"Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6), verkündetder wunderbare Herr Jesus, denn nur in Ihm sind diese drei eins und eines Wesens. Doch außerhalb von Ihm gibt es wedereinen Weg zum Ewigen, noch Wahrheit überdas Ewige, noch Leben im Ewigen. Das ist es, was Seine gottmenschliche Person einzig und unersetzlich macht. 
In allem, was Christi ist,  regiert diese unzertrennlicheDreiheit  -der Weg, die Wahrheit und das Leben. In jedem  Dogma  des Herrn Christus sind diese drei stets eins und untrennbar, denn jedes Dogma  ist einewiger Weg, der durch  die ewige Wahrheit ins ewige Leben führt. Deshalb ist alles in den Dogmen unendlich, unsterblich und ewig. Nichts in ihnen ist vergänglich, sterblich oder fiktiv. Ewigkeit und Gottmenschlichkeit sind die eine und einzige Kategorie des Lebens und Denkens des Neuen Bundes.  Deshalb sind die Dogmen, als ewige Wahrheiten, stets unvergänglich und gottmenschlich. Indem der Mensch sein Denken kraftvoll macht durch ein gnadenerfülltes,evangelisches Leben, steigt er nach und nach  von einer ewigen Wahrheit zur nächstenauf, von der dieser zur dritten usw. über zahllose weitere bis zum Gipfel der Gipfel, wo er letztlich die Fülle seines Wesens verwirklicht, das Plerom seinesSeins,Wahrnehmens und Erfahrens.
"Tod der Sünde undTod dem Tod"  -dies ist das Passwort zur evangelischen, gottmenschlichen, orthodoxen Philosophie. Indem sich der orthodoxe Mensch ernährt von den ewigen Wahrheiten Christi, befreit er sein Wissen, seinen Willen, seine Gefühle, sein ganzes Leben allmählich von allem, was verderbt,vergänglich, relativ und sterblich ist. Indem er sich hingibt an alles, was heilig, beständig, absolut und ewig ist, erneuert er sich selbst. Durch  dengnadenerfüllten asketischen Kampf besiegt er den  die Sünde liebenden, selbstbezogenen, anthropozentrischen alten Menschen in seinem Innern, im Namen des stets sündelosen Gottmenschen, in Gott lebend, ausgerichtet auf Gott als seinem Mittelpunkt. 
In diesem seinem freudigen Streben zum Gottmenschen hin wächst der sich  nach Christus sehnende Mensch inDenken und Leben. Er steigt hinab in alle Tiefen, dehnt sich aus in alle Weiten. Er wächst mit Gott in gottmenschliche Höhen empor, die jenseits sind vom Zugriff des relativistischen-nihilistischen Denkens, wo der wunderbare Gottmensch Jesus alles in allen  ist  für unser Denken und unsere Seele, für unser Fühlen und unser Leben. 
Das Mysterium der Wahrheit ist weder in Dingen noch in Ideen oder Symbolen zu finden, sondern in einer Person, nämlich in der gottmenschlichen Person des Herrn Christus  - "Ich bin die Wahrheit",  die allvollkommene Wahrheit, die niemals abnimmt, sich niemals wandelt, stets ein und dieselbe in  ihrer vollkommenenFülle, immerdar ein und dieselbe, gestern, heute und in Ewigkeit (Hebr 13,8). Die Wahrheit: immerdar ewig, selbst innerhalb der Zeit. Immerdar unendlich, selbst innerhalb des Endlichen. Immerdar unsterblich, selbst innerhalb des Sterblichen. Alle anderen Wahrheiten haben ihren Ursprung in dieser Einen Wahrheit, so wie die Sonnenstrahlen alle aus der Sonne stammen. Aus diesem Grund sind auch sie ewig und unsterblich. Tatsächlich sind alle Dogmen zusammen eine einzige Wahrheit -der Gottmensch, der Herr Christus. Alle weisen zurück auf Ihn, dennaus Ihm sind sie. Sie weisen zurück auf Ihn so wie die Sonnenstrahlen zurückweisen auf die Sonne. Wollte der Mensch sich nur daran machen, der Wahrheit des Guten zu folgen bis hin zu ihrer Quelle, er würde unweigerlich zum Herrn Christus gelangen, ihremSchöpfer und Ursprung. Folgt er der Wahr-heit der Gerechtigkeit, gelangt er wiederum unweigerlich zum Herrn Christus als ihrem 
Schöpfer und Ursprung. Sucht er die Wahrheiten  desLebens, der Welt, der Ewigkeit, 
der Liebe, der Vollkommenheit, der Liebe, der Gnade, der Freude, der Demut, der Hoffnung, des Gebets oder des Glaubens -in alledem gelangt er stets zum Herrn Christus als 
ihrem einzigen Schöpfer und Ursprung. Derjenige, der von der orthodoxen Philosophie 
geführt wird, fühlt und begreift mit seinem ganzen Wesen, dass es nichts Relatives gibt, 
weder auf dieser Seite des Grabes, noch auf der anderen. Mit seiner ganzen Seele und durch alle Kämpfe, Prüfungen und Erfahrungen seines Lebens  hindurch  fließt er ein in Unendlichkeit und Ewigkeit, in die Unendlichkeit und Ewigkeit Christi.
Ewige dogmatische Wahrheiten sind weder abstrakte Konzepte noch Vernunftschlüsse oder von der Logik diktierte Hypothesen. Sie sind im Gegenteil Geschehnisse und Erfahrungen von historischer Unmittelbarkeit und Wirklichkeit, denn sie wurden verkündet, offenbart, gesehen undgehört, haben sich zugetragen in Raum und Zeit, unter den Menschen. Das Dogma der Heiligen Dreiheit zum Beispiel ist eine ewige Wahrheit, die der Welt verkündet worden ist durch viele Prophezeiungen, Geschehnisse und Erfahrungen des Alten und des Neuen Bundes. Das Dogma des Gottmenschen Christus gründet auf der historischen Existenz des Gottmenschen Jesus von Nazareth. Das Dogma 
der Auferstehung ist die historische Tatsache der Auferstehung Christi.Was für diese Dogmen gilt, gilt auch für alle anderen Dogmen, denn alle von ihnen, vom ersten bis zum letzten, gründen auf der historischen Wirklichkeit, bezeugt durch Augenzeugen jenseits allen Zweifels. 
Wenn einer den Inhalt und die Bedeutung der Dogmen des Neuen Testamentsohne Vorurteil betrachtet, wird er feststellen, dass alle von ihnen göttliche und gottmenschliche Fakten  innerhalb der Grenzen von Zeit und Raum darstellen und es auch sind.  Die Menschen mögen zwar unfähig sein, sie zu verstehen,doch sie können sie nicht widerlegen. Es trifft zwar zu, dass die hartnäckigen Feinde Gottes diese Fakten bestreiten, selbst wenn sie sie mit ihren eigenen Augen sehen. Die Pharisäer sind dafür ein klassisches Beispiel und der Prototyp aller Pharisäer aller Zeiten. Sie bestreiten und verleugnen sie, weil sie nicht wollen, dass die Fakten Fakten sind, und versuchen mit allen Mitteln, die Fakten zu Hypothesen, Illusionen oder Fiktionen umzudeuten. 
Dogmatik ist ein Mosaik besonderer Art.  Sie klassiert  und ordnet die ewigen dogmatischen Wahrheiten entsprechend ihren Eigenschaften und gemäß dem Licht, das sie ausstrahlen. Dieses Mosaik der ewigen Wahrheiten  bringtdas Bild Christi  zum Vorschein, das Bild der  ganzengöttlichen Offenbarung des Alten und des Neuen Testaments. Dogmatische Wahrheiten sind in allen ihren Aspekten göttlich, unendlich, grenzenlos und ewig, denn sie stammen aus dem unendlichen, grenzenlosen und ewigen Gott. Kraft ihrer Natur selbst können sie nicht vom Menschen stammen und können nicht dem Menschen gemäß sein. In diesem Bereich schafft der Mensch nichts, denn er besitzt nicht die Kraft und die Macht, ewige und grenzenlose Wahrheiten zu schaffen. Er empfängt sie vielmehr von Gott in ihrer fertigen Gestalt. Menschliche Kreativität indiesem Bereich besteht darin, dass der Mensch die ewigen dogmatischen Wahrheiten mit Glauben annimmt und sie durch gnadenerfüllte evangelische Kämpfe zu seinem eigenen Leben, Denken und Fühlen macht, sodass er Heiligkeit und Vollkommenheit erlangt. 
Auf diese Weise  wurden die Heiligen Väter zur lebendigen Inkarnation der ewigen dogmatischen Wahrheiten.  Sie sind es, die die  heiligen dogmatischen Wahrheiten besitzen, und als solche sind sie auch die Verkünder und Bekenner derselben. Ein orthodoxer Dogmatiker muß daher für alle dogmatischen Wahrheiten zu den Heiligen gehen und von ihnen lernen, indem er sich stets vor Augen hält, dass Kommunikation mit ihnen nur möglich ist vermittels Gebet, Fasten und Wachen,. Hieraus folgt, dass das Werk des orthodoxen Dogmatikers asketisch und vielseitig ist. Es ist in erster Linie ein asketischer Kampf, weil der orthodoxe Mensch von den Heiligen lernt vermittels heiliger Kämpfe in betender Ehrfurcht und heiliger Scheu vor den Trägern von Gottes ewigen Wahrheiten. 
In dereinführenden Abhandlung zu seiner dogmatischen Schrift  Genaue Darlegung des Orthodoxen Glaubens legt der heilige Johannes von Damaskus ein für allemal den leitenden Grundsatz fest, dem ein orthodoxer Dogmatiker folgen muß:  "Ich werde nichts sagen, was von mir selbst stammt, sondern zusammenfassendniederschreiben, was weise und göttliche Männer an verschiedenen Orten gesagt haben."

Quelle: www.prodromos-verlag.de

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