Samstag, 10. Mai 2014

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ / Hl. Johannes Chrysostomus


„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ Wie soll man also den Sündern keinen Vorwurf machen? Sagt ja doch auch der Hl. Paulus ganz dasselbe, oder vielmehr Christus durch den Hl. Paulus: „Du, mit welchem Recht richtest du deinen Bruder?“ Und: „Du, was beleidigst du deinen Bruder?“ Und ein anderes Mal: „Du, wer bist du, dass du den Knecht eines anderen richtest?“ Und wiederum sagt er: „Richtet nicht vor der Zeit, bevor nicht der Herr kommt.“ Warum sagt aber dann Paulus an einer anderen Stelle: „Tadle, weise zurecht, schelte?“ Und anderswo: „Tadle die Sünder in Gegenwart aller.“ Ebenso befahl Christus dem Petrus: „Gut! Tadle ihn unter vier Augen; wenn er nicht auf dich hört, so ziehe noch einen anderen bei; wenn er aber auch so nicht nachgibt, so melde es auch der Gemeinde.“ Und so viele stellte der Herr auf, die richten sollten, ja nicht bloß richten, sondern sogar strafen? Denn er befahl ja, denjenigen, der auf alle diese nicht hören wollte, wie einen Heiden und öffentlichen Sünder zu meiden. Ja, wie kommt es, dass er den Aposteln sogar noch die Schlüssel übergeben hat? Denn, wenn sie niemand richten sollten, so hatten sie auch über niemand Autorität, und die Gewalt, zu binden und zu lösen, hatten sie dann umsonst erhalten. Andererseits würde auch, wenn dies wirklich so wäre, eine allgemeine Verwirrung entstehen, in den Kirchengemeinden, in den Städten, in den Familien.
Denn wenn der Herr seinen Knecht, die Herrin ihre Magd, der Vater den Sohn und der Freund den Freund nicht mehr richten dürfen, so wird bald das Böse überhand nehmen. Und was sage ich: der Freund den Freund? Wenn wir selbst die Feinde nicht richten, so werden wir nie einer Feindschaft ein Ende machen können, und alles wird darunter und darüber gehen. Welches ist also der Sinn dieser Aussprüche? Geben wir genau acht, damit keiner glaube, die Heilmittel, die zu unserem Besten gegeben sind, und die Gesetze, die uns den Frieden sichern sollen, hätten nur Umsturz und Verwirrung im Gefolge. Der Herr hat ja auch gerade in den folgenden Versen denen, die Einsicht haben, gezeigt, wie vorzüglich sein Gebot ist; er sagte: „Was beachtest du den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem eigenen Auge siehst du nicht?“ Wenn aber viele von den Einfältigen dies noch zu unklar vorkommt, so will ich den Zweifel ganz von vorne an zu lösen versuchen. Wie mir wenigstens scheint, befiehlt der Herr hier nicht einfach, überhaupt keine Sünde zu richten, und verbietet dies nicht so ohne weiteres, sondern nur denen, die selbst mit tausenderlei Sünden beladen sind und dennoch andere wegen ganz unbedeutender Fehler beunruhigen.
Außerdem glaube ich, dass er auch die Juden hier im Auge hatte, weil diese ihre Mitmenschen in liebloser Weise wegen harmloser und unbedeutender Dinge anklagten, selbst aber ohne Gewissensbedenken die größten Sünden begingen. Das hat er ihnen auch gegen Ende vorgeworfen und gesagt: „Ihr legt anderen schwere und unerträgliche Lasten auf, ihr selbst aber wollt sie nicht um Fingerbreite bewegen.“ Und ein anderes Mal: „Ihr gebt den Zehnten von Münzkraut und Anis; was aber das Schwerere ist am Gesetze, das Gericht, das Erbarmen, Treue und Glaube, das beachtet ihr nicht.“
Ich glaube also, der Herr hatte es auch auf diese Art von Juden abgesehen und wollte sie zum voraus mit den Klagen abweisen, die sie später gegen seine Jünger erheben würden. Denn, wenn auch die Jünger keine solchen Sünden begangen hatten, so schienen es doch den Juden schwere Verfehlungen zu sein, wie z.B., wenn man den Sabbat nicht halte, mit ungewaschenen Händen esse, mit Zöllnern bei Tische sitze.

Das erwähnt er auch an einer anderen Stelle: „Ihr seihet Mücken und verschlucket Kamele.“ Indes gibt der Herr damit auch eine allgemein gültige Richtschnur an für diese Dinge. Auch Paulus hat den Korinthern nicht einfach nur geboten niemanden zu richten, sondern nur diejenigen nicht, die ihre Vorgesetzten waren, zumal wo es sich um ganz unerwiesene Behauptungen handelt. Er befahl also nicht einfach nur, man solle die Sünder nicht zurechtweisen. Auch traf sein Tadel damals nicht alle ohne Unterschied; er wies nur die Schüler zurecht, die sich solches ihren Lehrmeistern gegenüber erlaubten, jene, die unzählige Missetaten auf dem Gewissen hatten und die Unschuldigen verleumdeten. Dasselbe hat nun auch Christus hier gemeint; und zwar hat er es nicht bloß zart angedeutet, sondern hat ihnen ganz ernstlich ins Gewissen geredet und ihnen unerbittliche Strafe in Aussicht gestellt: „Denn mit dem Maße, mit dem ihr richtet“, sagt er, „werdet ihr selbst gerichtet werden.“ Er will damit sagen;
Nicht ihn verurteilst du, sondern dich selbst. Du ziehst dir ein schreckliches Gericht zu, und musst einmal genaue Rechenschaft ablegen. Wie also wir den Anfang machen müssen, wenn wir Verzeihung unserer Sünden erlangen wollen, so ist auch bei diesem Gericht das Ausmaß der Strafe in unsere Hand gegeben. Wir sollen eben nicht lästern und beschimpfen, sondern ermahnen; wir sollen nicht anklagen, sondern zureden; wir sollen uns nicht in anmaßender Weise zu Richtern aufwerfen, sondern in Liebe zurechtweisen. Denn du überlieferst ja nicht den anderen, sondern dich selbst der schwersten Strafe, wenn du ihn (eigenmächtig) nicht schonst, da, wo du über seine Verfehlungen richten solltest.
Siehst du, dass diese beiden Gebote sehr leicht zu beobachten sind und denen, die sie befolgen, großen Nutzen bringen, aber auch viel Unheil denen, die sie übertreten? Wer seinem Nächsten die Sünden verzeiht, befreit sich selbst noch vor dem anderen von seinen Sünden, ohne dass er sich viel anzustrengen braucht. Wer mit Schonung und Nachsicht die Verfehlungen anderer prüft, sichert sich selbst durch ein solches Urteil überreiche Verzeihung, Wie also? fragst du; wenn jemand einen Ehebruch begeht, soll ich nicht sagen, der Ehebruch sei etwas Schlechtes, und soll den Wollüstigen nicht zurechtweisen? Zurechtweisen, ja; aber nicht als Gegner, nicht wie ein Feind Rechenschaft von ihm fordern, sondern tun wie ein Arzt, der die Heilmittel verabreicht. Christus sagt ja auch nicht: du sollst den Sünder nicht von der Sünde abhalten, sondern: du sollst nicht richten; das heißt: sei kein strenger Sittenrichter!

Übrigens hat er dies auch, wie schon bemerkt, nicht von wichtigen und verbotenen Dingen gesagt, sondern von solchen, die allem Anscheine nach kaum recht Verfehlungen genannt werden können. Darum sagte er: „Was achtest du den Splitter im Auge deines Bruders?“ So machen es heutzutage viele. Wenn sie einen Mönch sehen, der ein überflüssiges Kleid hat, so halten sie ihm das Gesetz des Herrn vor, während sie doch selber unzählige Räubereien begehen und den ganzen Tag danach trachten, Schätze aufzuhäufen. Wenn sie sehen, dass einer etwas mehr Nahrung zu sich nimmt, so klagen sie ihn voll Strenge an, während sie selber sich jeden Tag berauschen und ein schwelgerisches Leben führen, ohne zu beachten, dass sie, abgesehen von ihren eigenen Sünden, auch dadurch noch das Feuer vermehren und sich selber jegliches Recht auf mildere Umstände benehmen. Denn dass man über deine eigenen Handlungen ohne Nachsicht urteilen soll, das hast du zuerst gleichsam als Gesetz aufgestellt, indem du diejenigen deines Nächsten so gerichtet hast. Halte es also nicht für zu hart, wenn auch du in gleicher Weise zur Rechenschaft gezogen wirst.
„Heuchler! Entferne zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge!“ Hier will der Herr zeigen, wie groß sein Unwille gegen jene sei, die in der angegebenen Weise handeln. So oft er nämlich klar machen will, dass es sich um eine recht schwere Sünde handle, die auch schwere Strafe und Sühne verlange, beginnt er mit einem Scheltworte. So sagte er auch voll Unwille zu dem, der die hundert Denare zurückverlangte: „Du böser Knecht, deine ganze große Schuld habe ich dir nachgelassen.“ Ebenso gebraucht er auch hier den Ausdruck: „Heuchler.“ Derartige Urteile sind eben nicht der Ausdruck liebender Fürsorge, sondern liebloser Gehässigkeit. Es trägt zwar den Anschein der Liebe zum Nächsten an sich, ist aber doch nur eine Frucht erbärmlichster Schlechtigkeit, wenn jemand dem Nächsten unwahre Vergehen zur Last legt, wenn derjenige die Rolle des Lehrmeisters sich anmaßt, der nicht einmal wert ist, des Herrn Jünger zu sein. Darum gibt der Herr einem solchen Menschen den Namen „Heuchler.“ Denn wenn du mit dem Nächsten so lieblos verfährst, dass du auch die kleinen Fehler bemerkst, warum bist du dann mit dir selbst so nachsichtig, dass du sogar über deine großen Sünden hinweg siehst? „
Entferne zuerst den Balken aus deinem Auge.“ Siehst du, wie der Herr nicht verbietet, zu richten; nur will er, dass man zuerst den Balken aus dem eigenen Auge entferne, und dann erst die anderen auf die rechte Bahn zu weisen suche. Jeder kennt ja seine eigenen Angelegenheiten besser als die der anderen; jeder sieht das Große früher als das Kleine und liebt sich selbst mehr als seinen Nächsten. Willst du also aus wirklicher Fürsorge handeln, so sorge zuerst für dich selbst, weil da die Sünde größer und leichter zu sehen ist. Wenn du dagegen dich selber vernachlässigst, so ist dies ein deutliches Zeichen, dass du deinen Bruder nicht aus Sorge richtest, sondern aus Missgunst und in der Absicht ihn bloß zu stellen. Denn wenn ein solcher auch gerichtet werden muss, so soll dies doch durch einen geschehen, der selbst von der betreffenden Sünde frei ist, nicht aber durch dich.

Nachdem also Christus so große und erhabene Tugendsatzungen gegeben, brachte er diesen Vergleich, damit niemand sagen könne, es sei gar leicht, solche Tugenden mit Worten anzupreisen. Er wollte deshalb zeigen, dass sein eigenes Gewissen frei sei, dass er sich in dieser Beziehung nichts habe zuschulden kommen lassen, sondern sich in allem korrekt benommen habe. Er selbst sollte ja später als Richter auftreten und sagen: „Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler!“ Ihn selbst aber traf dieser Vorwurf nicht. Er hatte weder einen Splitter auszuziehen, noch hatte er einen Balken im Auge; er war frei und rein von all dem und hatte so das Recht, die Sünden aller Menschen zu bessern. Er wollte eben sagen: Man soll nicht über andere richten, wenn man selbst die gleiche Sünde begangen hat. Was wunderst du dich aber, dass er diesen Grundsatz aufgestellt? Hat ja doch selbst der Räuber am Kreuze dies erkannt und zum anderen Räuber gesagt: „Fürchtest auch du Gott nicht, da wir doch demselben Gerichte verfallen sind?“ Er hat damit dem gleichen Gedanken Ausdruck verliehen wie Christus. Du hingegen entfernst nicht nur nicht deinen eigenen Balken, du siehst ihn nicht einmal; den Splitter des anderen aber siehst du nicht bloß, sondern du richtest auch und machst dich daran, ihn zu entfernen. Das ist gerade so, wie wenn jemand an Wassersucht litte oder sonst an einer schweren Krankheit und, während er selbst sich um diese nicht kümmert, einen anderen tadelte, dass er eines leichten Fiebers nicht achte. Wenn es aber schon tadelnswert ist, seine eigenen Sünden nicht zu sehen, so ist es zwei und dreifach tadelnswert, auch noch über andere zu Gericht zu sitzen, während man selbst ganze Balken in den Augen herum trägt, ohne Schmerz zu empfinden! Und dazu ist eine Sünde, ja noch schwerer als ein Balken!

Hl. Johannes Chrysostomus, Matthäuskommentar 23, 12

2 Kommentare:

  1. _Wer seinem Nächsten die Sünden verzeiht, befreit sich selbst noch vor dem anderen von seinen Sünden, ohne dass er sich viel anzustrengen braucht._
    Stimmt schon irgendwie. Aber anstrengend kann es schon sein...

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    1. Christus ist auferstanden! Das stimmt, es ist wohl eines des schwierigsten Gebote..!!

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