Dienstag, 17. Dezember 2013

Altvater Sophrony von Essex -Über das Wesen der Sünde

Was ist die Sünde im christlichen Verständnis? Die Sünde ist in erster Linie ein geistiges, ein metaphysisches Phänomen. Die Wurzeln der Sünden finden sich in der verborgenen Tiefe der geistigen Natur des Menschen.
Das Wesen der Sünde ist nicht die Übertretung einer ethischen Norm, sondern eine Entfernung vom ewigen und göttlichen Leben, für das der Mensch erschaffen wurde und zu dem er natürlicherweise - das heißt seiner Natur gemäß - berufen ist.
Die Sünde geschieht zuallererst in der geheimnisvollen Tiefe des menschlichen Geistes, doch ihre Folgen ziehen den ganzen Menschen in Mitleidenschaft. Ist die Sünde einmal getan, wirkt sie sich aus auf den seelischen und körperlichen Zustand des Menschen, der sie begangen hat. Sie widerspiegelt sich in seiner äußeren Erscheinung und beeinflußt sein persönliches Geschick. Unausweichlich wirkt sie auch hinaus über die Grenzen des individuellen Lebens des Sünders und fügt bei zur schweren Bürde des Bösen, die auf dem Leben der ganzen Menschheit lastet. Infolgedessen beeinflußt sie das Geschick der ganzen Welt.
Nicht nur die Sünde unseres Urvaters Adam zeitigte Folgen von kosmischer Tragweite.
Jede Sünde eines jeden von uns, sei sie offenkundig oder verborgen, wirkt sich aus auf das Geschick der ganzen Welt.
Wenn der fleischlich gesinnte Mensch sündigt, empfindet er die Folgen davon nicht in derselben Weise wie der geistige Mensch. Der fleischliche Mensch bemerkt in sich keine Veränderung seines Zustandes nach dem Begehen der Sünde, weil er ständig im geistigen Tod verharrt, denn er hat das ewige Leben des Geistes nicht erfahren. Der geistige Mensch dagegen bemerkt jedesmal, wenn sein Wille zur Sünde hinneigt, eine Veränderung seines inneren Zustandes, auf Grund der Verringerung der Gnade.

Wir sind überrascht von der extremen Feinheit der Wahrnehmung und von der tiefen geistigen Intuition von Starez Siluan. Schon bevor ihm der Herr erschien und weit mehr noch nach dieser Erscheinung und für den ganzen Rest seines Lebens hatte er ein
besonders tiefes und akutes Gespür für die Sünde. Die Sünde bereitete seinem Herzen unerträglichen Schmerz, und deshalb war seine Reue, begleitet von Tränen, so intensiv, dass er nicht innehielt, bis seine Seele spürte, dass Gott ihm vergeben hatte. Viele mögen dies seltsam finden oder sogar übertrieben, doch das Beispiel des Starez ist nicht für alle.
Indem er seine Sünden bereute, suchte er nicht einfach Vergebung, die Gott leicht gewährt, vielleicht schon nach einem bloßen Seufzer des Bedauerns. Nein, er suchte nach vollständigem Erlaß seiner Sünden, bis er in seiner Seele wieder auf wahrnehmbare Weise die Gegenwart der Gnade spürte. Er bat Gott um die Kraft, wenn möglich nie wieder in die Sünde zurückzufallen, er betete darum, befreit zu werden vom "Gesetz der Sünde" (Röm 7,23), das in uns wirkt. Er spürte die Folgen der Sünde - den Verlust der Gnade - so intensiv und schmerzlich, dass er in Furcht war vor einer Wiederholung von solchem. Zu spüren, dass seine Seele der Gottesliebe und des Friedens Christi beraubt
war, war für ihn schlimmer als alles andere. Das Bewußtsein, sich gegen Gott vergangen zu haben, gegen einen solchen Gott, so sanft und demütig, war ihm unerträglich. Er empfand die tiefsten Schmerzen der Seele, jene eines Gewissens, das sich versündigt hat gegen die heilige Liebe Christi. Jemand, der auf der menschlichen Ebene einen anderen liebt und sich versündigt gegen diese Liebe, zum Beispiel gegen seine Eltern, weiß aus Erfahrung, durch welche Qualen das Gewissen geht. Doch alles, was in der Sphäre der psychologischen Beziehungen vor sich geht, ist nur ein blasser Schatten der geistigen Beziehungen mit Gott.
Welches ist der tiefere Sinn der Lehre, die Vater Siluan von Gott empfing? In jenem Augenblick wurde ihm offenbart, nicht auf abstrakte Weise, nicht rein begrifflich, sondern existentiell - durch lebendige Erfahrung -, dass die Wurzel aller Sünden, die Saat des Todes, der Hochmut ist, dass Gott Demut ist und dass jener, der zu Gott gelangen will, die Demut erwerben muß. Er begriff, dass diese große Demut Christi, so voll von unaussprechlicher Süße, wie er sie zu kosten gewürdigt wurde im Augenblick der Erscheinung, ein unverlierbares Attribut der göttlichen Liebe ist. Von nun an wußte er, dass jede asketische Anstrengung ausgerichtet werden muß auf die Erlangung der Demut.
Diese Offenbarung markierte eine neue Etappe im geistigen Leben des Mönchs Siluan. Die erste Erscheinung des Herrn war ganz erfüllt gewesen von einem unaussprechlichen Licht. Sie hatte ihm eine große Liebe gegeben, die Freude der Auferstehung und das Gefühl, wirklich hinübergegangen zu sein vom Tod ins Leben.
Doch es stellt sich die Frage: warum hatte sich dieses Licht in der Folge zurückgezogen?
Warum war dieses Geschenk nicht ein unwiderrufliches gewesen, gemäß dem Wort des Herrn: "Und eure Freude wird niemand von euch nehmen" (Joh 16,22)? War das Geschenk unvollkommen oder war die Seele, die es empfangen hatte, nicht fähig, es zu tragen?
Die Ursache des Verlusts der Gnade wurde ihm nun offenkundig - seiner Seele hatte es sowohl an Weisheit als auch an Kraft gefehlt, um das Geschenk zu ertragen. Jetzt empfing Siluan "das Licht der Erkenntnis", und er begann, "die Schriften zu verstehen" (Lk 24,45). Seinem geistigen Blick öffnete sich der Weg, der zum Heil führt. Viele tiefe Mysterien in den Leben der Heiligen und in den Schriften der Väter enthüllten sich ihm.
Sein Geist drang ein in das Mysterium des Kampfes des heiligen Seraphin von Sarow, der, nachdem ihm der Herr während der Liturgie erschienen war und nachdem er in der Folge die Gnade verloren hatte und von Gott verlassen worden war, an einsamer Stätte tausend Tage und tausend Nächte auf einem Stein im Gebet verharrte und unaufhörlich rief: "Gott, erbarme dich über mich Sünder!"
Er entdeckte den wahren Sinn und die Kraft der Antwort des heiligen Pimen des Großen an seine Jünger: "Glaubt mir, meine Kinder, da wo der Satan ist, dort werde ich hingeworfen werden."
Er begriff, dass der heilige Antonios der Große von Gott zu einem Schuster von Alexandria geschickt wurde, um jenes selbe Werk zu erlernen. Der Schuster lehrte ihn nämlich, sich an den Gedanken zu halten: "Alle werden gerettet werden, ich allein werde verlorengehen."
Es wurde ihm klar, dass der heilige Sisoes der Große eben diesen Gedanken vor Augen hatte, als er zu seinen Jüngern sagte: "Wer vermöchte den Gedanken des Antonios zu tragen? Doch ich kenne einen Mann, der es vermag." Dieser Mann war Sisoes selbst.
Er wußte nun, was der heilige Makarios der Ägypter meinte, als er sagte: "Steig hinab in dein Herz und dort führe Krieg gegen den Satan".
Er begriff, welches Ziel die "Narren um Christi Willen" verfolgten und welches, ganz allgemein, der Weg der großen Asketen wie Bessarion, Gerasimos vom Jordan, Arsenios der Grosse und so vieler anderer war.
Die Erfahrung seines eigenen Lebens zeigte ihm, dass der Krieg gegen das Böse, das kosmische Böse, in unserem eigenen Herzen ausgetragen wird, dass die letzte Wurzel der Sünde im Hochmut liegt, dieser schlimmsten Plage der Menschheit, denn er ist es, der die Menschen von Gott weggerissen und die Welt ins Unheil und in unzählige Leiden gestürzt hat - der Hochmut, diese eigentliche Saat des Todes, die die ganze Menschheit niederdrückt mit der Finsternis der Verzweiflung. Deshalb sammelte Siluan von da an
alle Kräfte seiner Seele, um die Demut Christi zu erlangen. Im Geist hineingetragen in das Leben der heiligen Väter, erkannte er, dass die Erfahrung des Wegs, der zum ewigen Leben führt, in der Kirche von jeher existiert hat, und dass sie durch die Wirkung des
Heiligen Geistes durch alle Zeiten hindurch weitergegeben wird von Generation zu Generation.
Viele Leute, wenn sie Mönchen begegnen, finden an ihnen nichts Besonderes, weshalb sie unbefriedigt oder gar enttäuscht sind. Das rührt daher, dass sie dieselben mit ungeeigneten Maßstäben messen und an sie Forderungen und Ansprüche stellen, die verfehlt sind.
Der Mönch verharrt in einem ständigen asketischen Kampf, der zuweilen äußerst intens ist. Der orthodoxe Mönch ist kein Fakir. Er strebt keineswegs nach der Entwicklung seiner psychischen Fähigkeiten, mit Hilfe spezifischer Techniken, wie dies die Unwissenden, die auf der Suche nach Mystik sind, so sehr beeindruckt. Die Mönche führen einen harten Kampf. Einige von ihnen, darunter Starez Siluan, sind hingegeben an ein titanisches Ringen, das der Welt unbekannt ist, um in sich selbst die Bestie des Hochmuts zu töten und ein wahrer Mensch zu werden - ein Mensch nach dem Bild das Vollkommenen Menschen, Christus, sanft und demütig von Herzen (Mt 11,29).
Das christliche Leben ist seltsam, unverständlich für die Welt. Alles darin ist paradox, alles folgt einer Ordnung, die gegenüber derjenigen der Welt sozusagen umgekehrt ist.
Dieses Leben läßt sich nicht begreiflich machen durch Worte. Der einzige Weg, es kennenzulernen, ist die Einhaltung der Gebote Christi. Dies ist der Weg, den Er Selbst gewiesen hat.

Quelle:: www.prodromos-verlag.de

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