Von den Werken der Barmherzigkeit, vom Almosengeben spricht der Herr in der Bergpredigt gesondert. Er vergleicht die alttestamentliche Einstellung zu den Almosen mit der neutestamentlichen Sicht und deckt dabei einen wesentlichen Unterschied auf. Im Alten Testament stellte das Almosengeben - wie in anderen Religionen auch - eine moralische Tugend dar. Es war eine gute Tat eines guten Menschen, eine Hilfeleistung an den Nichthabenden. Das war's aber auch. Ja, braucht man denn überhaupt irgendwelche Zusatzbedingungen, damit eine gute Tat wahrhaftig als eine solche gelten sollte? Zweifeln wir hier nicht an dem absoluten Wert der guten Tat? Wenn einer dem anderen die Hand reicht, um ihm zu helfen, dann tut er doch damit etwas Gutes, oder?
Der Herr definiert aber eine bestimmte Wechselbeziehung zwischen der barmherzigen Tat und dem inneren Zustand eines Menschen, der sie vollbringt. Er nennt so etwas wie eine Bedingung, deren Einhaltung dringend erforderlich ist, damit das Werk der Barmherzigkeit wahrhaftig eine gute Tat werde. Hierbei geht es nur um eine einzige Voraussetzung, die aber sehr wichtig ist: es ist die Uneigennützigkeit.
In Seiner Bergpredigt sagt es der Herr so: «Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen; sonst habt ihr keinen Lohn vor eurem Vater im Himmel zu erwarten. Wenn du Almosen gibst, lass es also nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und den Gassen tun, um von den Leuten gelobt zu werden. Amen, das sage Ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Wenn du aber Almosen gibst, so soll deine linke Hand nicht wissen, was deine Rechte tut. Dein Almosen soll verborgen bleiben, und dein Vater, Der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten» (Mt 6, l - 4).
Demnach wird eine gute Tat in den Augen Gottes erst dann gottgefällig, wenn sie aus uneigennützigen Motiven geleistet wurde und nicht zum Erreichen irgendwelcher Nebenziele als Mittel eingesetzt wird. Denn in der Zeit, als Jesus unter uns Sein irdisches Leben lebte, war es unter den Pharisäern üblich, dass sie Almosen verteilten, um im Volk gut dazustehen, damit die Menschen auf sie zeigten und riefen: Seht doch, wie weise und gottesfürchtig unsere Führer sind!
Zuweilen müssen wir auch heute noch ähnliches erleben. Wir erleben das Entstehen einer Vielzahl der unterschiedlichsten Wohltätigkeitsgesellschaften und Hilfswerke, die Begriffe «gute Tat» und «Barmherzigkeit» sind in aller Munde. Nicht eine Wahlkampagne, nicht ein Ereignis, wo eine Willensäußerung des Wählers gefragt ist, laufen ohne lautstarke Wohltätigkeitsaktionen ab. Sie werden von Menschen veranstaltet, die um das Wohlwollen ihrer Mitbürger buhlen. Oft erweist sich ein anscheinend gutes Unterfangen als Werbekampagne, die das Vertrauen und die Sympathien der Leute gewinnen soll, nur um diese Gefühle von den Veranstaltern dieser Schau vereinnahmen zu lassen! Wir müssen also mitansehen, dass die scheinbare Uneigennützigkeit zuweilen durchaus eigennützige Zielsetzungen haben kann. Der Herr warnt uns davor und weist daraufhin, dass jemand, der das Almosengeben aus dem «Ziel» in ein «Mittel zum Zweck» verwandelt, letztendlich keinen Erfolg haben wird.
Die gleiche Wechselwirkung zwischen dem Innenzustand eines Menschen und der Wohltätigkeit sieht Gott in dem Gebet eines Menschen - d.h., in dieser wichtigen Komponente seines religiösen Lebens: «Und wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler. Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber gehe in deine Kammer, wenn du betest, und schließe die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, Der im Verborgenen ist. Dein Vater, Der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten» (Mt 6, 5 - 6).
So wie nicht jede Wohltat vor Gott ein gerechtes Werk darstellt, so ist auch nicht jedes Gebet gottgefällig und wird nicht unbedingt von Ihm erhört werden. Erhört wird nur ein Gebet, das nicht zur Schau getragen wird und das keine eigennützigen Zielsetzungen verfolgt. « Wenn ihr aber betet, - fährt der Herr fort, - sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie, denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr Ihn bittet. So sollt ihr beten ...» (Mt 6, 7 - 9).
Und der Herr lehrt uns, wie wir zu beten haben, am Beispiel Seines Gebetes, das seitdem das Gebet des Herrn genannt wird: »Vater unser im Himmel, Geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.» (Mt 6, 9-13).
Das Gebet des Herrn beginnt mit der Anrede «Vater». Den Schöpfer so zu nennen ist für uns nur möglich geworden, weil Gottes Sohn in die Welt gekommen ist, Der in Seiner Person das Göttliche mit dem Menschlichen vereint, weil Er die Mauer der Sünde, die den Menschen von Gott trennte, überwunden hat. Durch Christi Vermittlung wurden die Menschen «nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes», wie es Paulus in seinem Epheserbrief ausdrückt (Eph 2, 19). Und als solche haben sie das Anrecht gewonnen, Gott als «Vater» anzureden. Gott ist für uns Vater geworden, durch Seinen Sohn, Der zum Menschensohn geworden war.
«Vater unser, der Du bist in den Himmeln!» - hier sprechen wir vom Aufenthalt Gottes in der Himmlischen Heimat. Das Bild des Himmlischen Vaters bezeugt unter anderem auch, dass Gott in unserer irdischen Welt keine Existenzquelle hat, so ganz im Gegensatz zu den heidnischen Göttern, die zu Christi Zeiten von den meisten Menschen angebetet wurden. Wir aber beten den nicht von Menschenhand geschaffenen Gott an und wenden unser Gebetswort an den Himmlischen Vater, Der von unserer irdischen Existenz unabhängig ist und Der in der Welt des Übersinnlichen lebt.
«Geheiligt werde Dein Name...» - dies stellt die erste Bitte an Gott dar: Sein Name möge vor den Menschen heilig sein. Damit bekennen wir auch, dass Gott der alleinige Heilige ist, und wir bitten, Sein Heiligsein möge dem Menschengeschlecht offenbart werden, indem es für jeden von uns als Bild der höchsten Vollendung leuchte, den Menschen ihre geistigen Augen öffne, sie auf ihrem Lebensweg hier auf Erden begleite und in der Wahrheit bestätigen möge. Denn Gott ist der Anfang und Quell alles Guten und die Verkörperung des absoluten Ideals. Er bleibt ein unerreichbares Musterbeispiel für den Menschen, muss aber von diesem anerkannt, akzeptiert und verherrlicht werden. Nur darum geht es in diesem unseren ersten Gebetsanliegen an Gott.
«Dein Reich komme ...» - Das Reich Gottes ist die Gemeinschaft mit Gott, ein Leben mit Gott. In eine derartige Gemeinschaft kann der Mensch nicht einfach durch seine eigene Willensäußerung eintreten, denn das Reich Gottes ist eine Gabe, die von oben geschenkt wird.
Diese Gabe aufzunehmen und in ihren Besitz gelangen können wir erst, wenn wir das System der sittlichen Werte verinnerlichen, die Gott dem Menschen geschenkt hat. Indem wir Gottes Gebote und die von Gott festgelegte sittliche Lebensordnung akzeptieren, öffnen wir uns für Sein Reich. Damit der Mensch das Reich Gottes erben möge ist ja unser Herr in diese Welt gekommen! Und das erste Wort Seiner Predigt war: «Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!» (Mk l, 15).
Denn es ist nicht von ungefähr, dass das zweite Gebetsanliegen des Herrengebets unsere Gedanken und Gefühle zu der Vorstellung vom Reich Gottes wendet, das das Leben mit Gott versinnbildlicht. Damit nun dieses Bild zu einer rettenden, heilsbrin genden Realität werde, muss der Mensch die ihm geschenkte Freiheit zu seinem Wohle einsetzen, er muss seinen Willen dem Willen Gottes unterordnen. In diesen Worten des Gebets ist gleichzeitig die Bitte an Gott enthalten, uns zu Erben Seines Reiches zu machen, aber auch das Gebetsanliegen um die Umwandlung unseres Glaubens in eine greifbar-konstante Verwirklichung dessen, was der Herr gepredigt hatte: das baldige Kommen des Reiches Gottes.
«Dein Wille geschehe...» - bitten wir den Herrn. Dies bedeutet, dass Gottes Wille, der im ethisch-sittlichen Gesetz seinen Ausdruck rindet, von unserem Wesen freiwillig aufgenommen werden muss. Basilius der Große drückt es so aus: «Man sollte nicht den eigenen Willen dem Willen des Herrn vorziehen, vielmehr muss man bei jedem Tun und Handeln begreifen, was der Wille Gottes ist - und diesen ausführen».
«Unser tägliches Brot gib uns heute...» - hier geht es darum, dass wir bitten, der Herr möge uns die Deckung unserer Alltagsbedürfnisse für unsere physische Existenz segnen und gewähren. Durch dieses Gebetsanliegen wird durch die Göttliche Autorität das Gesetzmäßige der Lebensansprüche des Menschen gesegnet, zugleich aber das Kriterium eingeführt, wonach die begründeten Ansprüche von den verwerflich-sündigen unterschieden werden können.
Denn unsere Bedürfnisse sind dann gerechtfertigt, wenn sie dem Lebensunterhalt dienen. Verwerflich-sündhaft werden sie nur, wenn sie den fleischlichen Gelüsten frönen, wie es Paulus ganz direkt ausdrückt: «Sorgt nicht so für euren Leib, dass die Begierden erwachen» (Rom 13, 14).
«Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern...». Der Herr wird uns nur dann vergeben und uns von unserer Sünde freisprechen, wenn wir selbst imstande sind, unseren Mitmenschen zu vergeben.
«Und führe uns nicht in Versuchung...», d.h. lass es nicht zu, dass wir von dem Übel verblendet werden. Nicht Gott ist der Schöpfer des Übels, sondern Satan, der Teufel. Und als «Vater des Bösen» sucht er den Menschen zu verblenden, indem er die Sünde als etwas Verführerisches und Wünschenswertes darstellt. Wir aber wenden uns mit unserem Gebetsanliegen an Gott, Er möge uns aus dieser diabolischen Verführung herausführen, uns befähigen, das Gute vom Bösen, die Wahrheit von Betrug zu unterscheiden, und er möge uns mit der Kraft des geistigen Sehens ausrüsten.
«Sondern erlöse uns von dem Bösen.» Mit diesen Worten bitten wir den Herrn, uns aus dem Machtbereich des Satans zu befreien, denn aus eigener Kraft sind wir nicht imstande, dieses «Prinzip des Bösen» von uns abzuschütteln.
Dies sind die ewigen Worte des Gebets des Herrn. Sie enthalten alles Notwendige für unser religiöses Leben. Und selbst wenn der Mensch nicht weiß, wie er mit seinen eigenen Worten beten soll, oder wenn er andere kirchliche Gebetstexte nicht kennt, so muss man zumindest dieses herrliche Gebet, das uns der Herr Selbst beigebracht hat, kennen. Wollen wir uns vor allem mit diesen Worten immer wieder an unseren Herrgott wenden!
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