Die Demut
Der folgende Sonntag wird „Sonntag des Zöllners und Pharisäers genannt. Bei der Vigil dieses Tages, am Samstagabend zur Vesper, findet zum ersten Mal das liturgische Buch der Periode der Fastenzeit, Das Triodion, Anwendung. Texte aus diesem Buch werden den Hymnen und üblichen Gebeten des an der Auferstehung orientierten Dienstes der Woche hinzugefügt. Diese Texte entwickeln den zweiten Gesichtspunkt des Bereuens: die Demut.
Das Gleichnis des Evangeliums (Lk 18, 10) entwirft das Bild eines Menschen, der stets mit sich zufrieden ist und der meint, allen seinen religiösen Pflichten in der rechten Weise nachgekommen zu sein. Er ist selbstsicher und stolz auf seine Person. tatsächlich jedoch hat er den Sinn der Religion verfälscht. Er verengt ihn auf äußere Praktiken und bemisst seine Frömmigkeit nach der Geld-summe, die er an den Tempel abführt. Was den Zöllner anbetrifft, dieser erniedrigt sich selbst, und diese Selbsterniedrigung rechtfertigt ihn vor Gott. Und wenn es eine moralische Eigenschaft gibt, von der man nahezu kein Aufhebens mehr macht und die in unseren Tagen sogar abgelehnt wird, dann ist es die Demut.(…)
Aber was ist die Demut? Die Antwort auf diese Frage kann wider-sinnig erscheinen, weil sie sich auf eine überraschende Aussage stützt: „Gott selbst ist demütig“. Und dennoch ist für denjenigen, der Gott kennt und Ihn in Seiner Schöpfung und Seinen Heil-staten betrachtend sucht, offenkundig, dass die Demut in Wahr-heit eine göttliche Eigenschaft ist, dass sie der Inhalt selbst und das Ausstrahlungsvermögen jenes Ruhmes ist, der Himmel und Erde erfüllt, wie wir in der Göttlichen Liturgie singen. (…) Gott ist demütig, weil Er vollkommen ist; Seine Demut ist Sein Ruhm und die Quelle einer jeden wahren Schönheit, Vollkommenheit
und eines jeden Gut-Seins; und wer auch immer sich Gott nähert, und Ihn erkennt, hat unmittelbar teil an Seiner Göttlichen De-mut und wird angetan mit Seiner Schönheit. Dies trifft für Maria zu, der Mutter Christi: ihre Demut hat sie zur Freude der ganzen Schöpfung und zu reinsten Offenbarung der Schönheit auf Erden
werden lassen; dies trifft zu für alle Heiligen und für jeden Menschen in den seltenen Augenblicken seiner Kontakte mit Gott.
Und wie wird man demütig? Für einen Christen ist die Antwort einfach: Durch eine Betrachtung Christi, der fleischgewordenen göttlichen Demut, des Einen, in dem Gott ein für allemal seine Herrlichkeit als Demut und Seine Demut als Herrlichkeit geoffenbart hat. „Heute“, sagt Christus am Abend Seiner tiefsten Selbst-Erniedrigung, „ist der Menschensohn verherrlicht worden, und Gott wurde verherrlicht in Ihm“. Demut wird erfahrbar in der Betrachtung Christi, der gesprochen hat: „Lernt von mir, der ich sanftmütig und demütig von Herzen bin.“ Schließlich wird man demütig dadurch, dass alles im Hinblick auf Ihn gewertet und auf Ihn ausgerichtet wird. Denn ohne Christus ist wahre Demut unmöglich. Das zeigt auch der Pharisäer, für den selbst noch dieReligion zum Stolz auf menschliche Leistungen wird, einer weiteren Form pharisäischer Selbst-Verherrlichung.
Die Zeit des Fastens beginnt also mit einem Suchen, einem Gebet um Demut, die der Beginn der wahren Bekehrung ist. Denn das Sich-Bekehren ist vor allem eine Rückkehr zur wahren Ordnung der Dinge, die Wiederherstellung einer echten Schau. Es wurzelt in der Demut, und sie – die göttliche und schöne Demut – ist ihre Frucht und ihr Ziel. „Lasst uns fliehen das leere Gerede des Pharisäers“, fordert uns das Kontakion dieses Tages auf, und „lernen die erhabene Größe der demütigen Worte des Zöllners…“. Wir befinden uns an der Schwelle zur Umkehr und im feierlichsten Augenblick der Vigil des Sonntags; nach der Ankündigung der Auferstehung und dem Erscheinen Christi – im „Wir haben die Auferstehung geschaut…“ – singen wir zu ersten Mal die Trop-rien, die uns die ganze Fastenzeit über begleiten werden:
Öffne mit die Pforten der Reue, Du, Der Du das Leben schenkst;
Schon früh am Morgen strebt mein Geist, der den von der Sünde ganz beschmutzten Tempel meines Körpers trägt, Deinem heiligen Tempel zu! In Deiner unendlichen Güte mache mich rein durch Dein huldvolles Erbarmen.
Führe mich auf die Pfade des Heils, o Mutter Gottes! Denn durch schändliche Sünden habe ich meine Seele befleckt und mein Leben in Nachlässigkeit vergeudet. Durch Deine Fürsprache rette mich von aller Unreinheit.
Wenn ich, tief betrübt, der Menge meiner bösen Taten gedenke, erschrickt mich zutiefst der Gedanke an den furchtbaren Tag des Gerichtes. Doch im Vertrauen auf Deine erbarmende Güte, rufe ich zur Dir wir David: „Erbarme Dich meiner, o Gott, nach Deinem großen Erbarmen!“
(aus: „Die Große Fastenzeit“ von Alexander Schmemann, Veröffentlichungen des
Instituts für Orthodoxe Theologie, Band 2, München 1994)
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