Viermal im Jahr verehrt die Orthodoxe Kirche das Kreuz des Herrn:
am 14. September, dem Fest der Auffindung und Erhöhung des Kreuzes durch die Hl. Helena, die Mutter Kaiser Konstantins im Jahre 335 in Jerusalem,
am 3. Sonntag in den Großen Fasten vor Ostern, dem Fest der Kreuzverehrung,
am 1. August mit der Prozession des Kreuzes um die Kirche,
am Hohen Freitag vor Ostern, wenn das Kreuz aus dem Altarraum in die Kirche herausgetragen und dort aufgestellt wird zur Verehrung durch Kniefälle und Kuss.
Warum diese vielfache feierliche Verehrung des Kreuzes?
- In der Kreuzigung des Gottessohnes wird die unfassbare Liebe Gottes zu den Menschen sichtbar. Wo in aller Welt kommt ein Gott den Menschen so nahe, dass er nicht nur Mensch wird, sondern auch noch für sie den Tod erleidet. Aber auch das ist noch nicht das Ende -seiner Erniedrigung. Er steigt sogar hinab in das Reich des Todes, in dem dieser die Verstorbenen gefangen hält. Da es dessen Gesetz ist, alles Leben zu vernichten und in sein Reich zu holen, musste er auch den Gekreuzigten aufnehmen, und in und mit diesem - Gott. Aber diesen konnte der Tod nicht beherrschen, denn Er war mächtiger als er. Er konnte es nicht verhindern, dass dieser in seinem Reich das Evangelium verkündete {1. Petr 3,19f.), dessen Riegel zerbrach und allen Menschen den Weg ins Paradies wieder öffnete. So hat Christus den Tod mit dessen eigener Waffe getroffen. Er „hat den Tod durch den Tod zertreten", wie das Ostertroparion diesen Sieg besingt.
Die abendländische Tradition betont das Leiden, wie dies auch die Bilder und Kruzifixe vom Schmerzensmann am Kreuz deutlich werden lassen. Die realistischen Darstellungen seiner Passion verkünden nur das innerweltliche Geschehen des Todes eines Menschen. Diese Art der Kontemplation verengt den Blick auf den inneren Nachvollzug der Passion Christi. Diese Betrachtungsweise ist dem orthodoxen Christen fremd. Er kann das Leiden Christi am Kreuz nicht isoliert betrachten von seiner Auferstehung, Himmelfahrt und seiner neuen zweiten Ankunft in Herrlichkeit am Ende der Zeiten. Das ist der Grund, warum die altkirchlichen, byzantinischen, irischen und frühmittelalterlichen Darstellungen des Gekreuzigten ganz anders ausfallen.
Im Evangeliar des Rabula, das am Ende des 6. Jahrhunderts entstand, findet sich eine Bildtafel mit der Darstellung des Gekreuzigten auf der oberen Bildhälfte und der Auferstehung auf der unteren. Oben erscheint der Gekreuzigte wie schwebend am Kreuz, gekleidet im purpurfarbenen Gewand mit zwei Goldstreifen über der Schulter. Dies ist das Gewand , das nur dem Kaiser vorbehalten war. Also schon am Kreuz trägt Christus das Kleid des Allherrschers (griech.: Pantokrator), d.h. des Bezwingers des Todes. In der unteren Bildhälfte steht der Auferstandene im gleichen Gewand vor dem leeren Grab und spricht mit Maria Magdalena. Es ist kennzeichnend für die Kirche des ersten Jahrtausends, dass sie die Kreuzigung und die Auferstehung in eins zusammensieht, d.h. der Gekreuzigte ist identisch mit dem Auferstandenen. - In gleicher Weise zeigt ein byzantinisches Evangeliar aus dem frühen 10. Jahrhundert Jesus im kaiserlichen Purpurgewand am Kreuz. Die sich verdunkelnden Gestirne von Sonne und Mond über dem Kreuz verkünden nicht nur die Sonnenfinsternis in der Stunde seines Todes, sondern auch die Himmelszeichen bei seiner Wiederkunft zum Jüngsten Gericht. Der Gekreuzigte ist nicht nur der Auferstandene, er ist auch zugleich der wiederkommende Richter am Ende der Zeit.
Mit unserer Kreuzverehrung schließen wir uns dem Siegeszug Jesu Christi durch das Totenreich zu unserer zukünftigen Auferstehung hin an. Nicht der innere psychologische Nachvollzug des Leidens Christi ist das Entscheidende, sondern sie sakramentale Teilnahme am Kreuzesgeschehen. Es ist der Tod des Herrn, der uns in der Taufe leibhaft berührt und miteinschließt. Dieser geschah nicht nur in einem fernen Land in längst vergangener Zeit, sondern ist für jeden Christen ein hautnahes Ereignis. Denn in der mit der altkirchlichen Symbolik des dreimaligen Untertauchens vollzogenen Taufe sind wir in unfassbarer Weise mit dem Tod Christi am Kreuz und seiner Auferstehung damals am Ostermorgen verbunden, „eingepflanzt", wie es der Apostel Paulus ausdrückt:
„So sind wir mit Ihm ( Christus ) durch die Taufe begraben in den Tod, auf dass wir, gleichwie Christus von den Toten auferweckt ist... auch wir in einem neuen Leben wandeln" (Rm 6,4 ).
Diese orthodoxe Kreuzverehrung hat einen ganz anderen Hintergrund.. Sie ist etwas ganz anderes als die Andacht, mit der der mittelalterliche Christ im Westen gelernt hat, das Leiden und das Kreuz des Herrn zu betrachten und nachzuahmen (imitatio Christi). Bei dieser Frömmigkeit ist die Kreuzverehrung in der Gefahr, zu einem immanenten Vollzug verengt zu werden.
Die orthodoxe Kreuzverehrung will uns an das erinnern, was uns in der Taufe schon widerfahren ist: Das dreimalige Untertauchen des Täuflings bezeichnet seine Teilnahme am Kreuzestod Jesu Christi, das jeweils folgende Auftauchen seine Teilnahme an der Macht des Auferstandenen zu einem neuen Lebenswandel. Diese Art der Kreuzverehrung hat zur Grundlage das unfassbare Mysterium der Taufe, ist orientiert auf ein transzendentes Geschehen in Raum und Zeit. Das Kreuz ist das Siegeszeichen auch unsrer Befreiung aus der Allmacht des Totenreichs.
Der Einwand, dass diese Formen der Kreuzverehrung, wie sie in der Orthodoxen Kirche gelebt werden, zu wenig das Leiden Christi deutlich werden lassen, treffen nicht zu. Als Beispiel für das Mitempfinden der Kirche am Leiden des Herrn sei hier die 15. Antiphon aus dem Morgengebet des Hohen Freitags zitiert:
Heute hängt am Kreuz, der die Erde über den Wassern aufgehängt.
Heute hängt am Kreuz, der die Erde über den Wassern aufgehängt.
Heute hängt am Kreuz, der die Erde über den Wassern aufgehängt.
Eine Dornenkrone trägt der König der Engel.
Zum Spotte wird in Purpur gehüllt,
der da hüllt den Himmel in Wolken.
Mit Nägeln wird angeheftet der Bräutigam der Kirche.
Mit der Lanze durchbohrt der Sohn der Jungfrau.
Wir fallen nieder vor deinem Leiden, Christus. Wir fallen nieder vor deinem Leiden, Christus. Wir fallen nieder vor deinem Leiden, Christus. Zeige uns auch deine herrliche Auferstehung.
Im Gegensatz zur altchristlichen Aussage, die das Leiden und die göttliche Macht stets ausbalanciert, wird heute im öffentlichen Leben das Kreuz weithin als Zeichen des Lebensendes (bei Todesanzeigen) und des Todes allgemein verwendet. Dies steht in direktem Widerspruch zu der allgemeinchristlichen Überzeugung des 1. Jahrtausends, wie dies die genannten Beispiele zeigen. Die Verehrung des Kreuzes im liturgischen Vollzug lässt seine ursprüngliche Bedeutung für die Christen wieder deutlich werden.
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