Freitag, 14. März 2014

P. Nikolai Wolper: Die Bedeutung der Engel im orthodoxen Gebet


     

 Auf den ersten Blick mag diese Überschrift uns verwundern. Wenn wir von Engeln hören, denken wir wahrscheinlich zuerst an unseren Schutzengel oder an andere Boten, die den Willen Gottes an uns ganz persönlich vermitteln. Vielleicht bewegen wir uns auch im Fahrwasser der Esoterik und glauben uns umgeben von Kraftzentren, die die Natur beleben und unser Leben impulsieren. Oder wir stellen uns sogar das ganze Universum als harmonisches System von Schwingungen, als kosmische Musik vor. Im Alten Testament erfahren die Menschen häufig die Gegenwart Gottes in der Gestalt von Engeln, die vielleicht sogar zunächst wie gewöhnliche Menschen aussehen - wie in der Begegnung von Abraham und Sarah mit dem Dreieinen Gott im Hain Mamre (Gen 18), wie wir sie hoch oben an der Westwand vor Augen haben. Ihrem Begriff entsprechend sind Engel Boten. Hier in unserer Kirche begegnen wir ihnen in den Bildern der großen Heilsereignisse, der Verkündigung und Geburt des Herrn, Seiner Taufe und Kreuzigung, und über dem Altar verehren sie in Ehrfurcht die Gottesmutter als Verkörperung der ganzen betenden Kirche.
Aber ihre größte und erhabenste Aufgabe ist nicht die bloße Vermittlung zwischen Gott und den Menschen, sondern sie verwirklichen ihr Wesen in der höchsten Aufgabe, zu der Geschöpfe überhaupt fähig sind: im Lobpreis Gottes als Antwort auf die Liebe des Schöpfers. Dazu rufen in leidenschaftlicher Eindringlichkeit die Psalmen auf. Sie münden ein in den großen Hymnus: „Aller Odem lobe den Herrn. Lobt Ihn, all ihr Engel, lobt Ihn, all seine Heerscharen. Dir gebührt Lobgesang, o Gott.“ Und dann wird die gesamte Schöpfung eingeladen, in diesen himmlischen Lobgesang einzustimmen: die Gestirne, die Naturgewalten, die Berge und Gewässer, die Tiere und schließlich die Menschen, angefangen von ihren Fürsten und Richtern bis zu den Greisen und Kindern. „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!“ (Ps 148 ff.)

Die himmlischen Wesen, die nicht gezeichnet sind von der Hinfälligkeit des Körpers und der Zweideutigkeit des schwankenden Geistes, die nicht ermüden wie wir schon nach zwei Stunden Gottesdienst und sich nicht  ablenken lassen von den Sorgen und Pflichten in dieser Welt, verwirklichen ihr ganzes Sein in der Ausrichtung auf den Schöpfer hin und vertreten damit in alle Ewigkeit die übrige Schöpfung, die noch auf dem Weg zu ihrem Ursprung unterwegs ist, angetrieben und belebt vom Heiligen Geist, aber geschlagen vom Fluch der Freiheit, die die Versuchung zur Eigenmächtigkeit und Verwirrung im Netz der von Gott abgefallenen Chaosmächte einschließt.

Jede Gemeinschaft ist Abglanz der Einheit der drei göttlichen Personen, und diese Einheit ist ein Zustand der Resonanz, des Widerhalls von Schwingungen, die sich verstärken in der Harmonie zwischen Wesen. Ist dieser Einklang über alle Verschiedenheit hinweg nicht auch unser Begriff von Glück? Wir erleben dieses Phänomen schon inspirierend in den Sphären der Musik, die es ja in allen Kulturen gibt und die auf der Ordnung von schwingenden Medien und ihrer Resonanz in den Seelen der Menschen beruht. Auch die Schönheit und Erhabenheit der Natur – des Meeres, der Gebirge, der Wüste – kann uns in einen solchen schwingenden, beschwingten Glückszustand versetzen. Aber all dieses ist nur die Ouvertüre, die Vorschule, der Vorgeschmack des Glücks; die Höchstform solchen Einklangs erfahren wir erst in der Liebe, und die gibt es im eigentlichen Sinn nur zwischen Personen. Alle anderen Formen der Hingabe und Vereinigung sind in vielfältiger Form davon abgeleitet.
Und so ist es auch ganz im Sinn der Weltharmonie, dass die himmlischen Geistwesen in ihrer hierarchischen Ordnung der Cherubim und der Seraphim, der Throne und Gewalten, der Erzengel und Engel diejenigen Geschöpfe sind, die zuerst und eindeutig auf die Anrede des Schöpfers antworten. Sie sind – anders als Sonne, Mond und Sterne - personale Resonanzwesen, ja Person gewordene Musik. Die westliche Kunst stellt sie deshalb gern mit Musikinstrumenten dar, was die Orthodoxen aber vermeiden, weil sie als Höchstform des Lobpreises, ja der Zuwendung zwischen Wesen überhaupt, nur die personale Stimme gelten lassen. So dienen die Engel in ihrem ganzen Sein einzig und allein dem Ziel, die Schöpfung zu vereinigen in der Hinwendung zum Zentrum aller Kräfte und Lebensenergien und aller Sinnstiftung im Kosmos, d.h., mit dem Dreieinen Gott.

Den höchstmöglichen bildlichen Ausdruck dieser priesterlichen Dankgeste der ganzen Schöpfung stellt die Kuppelausmalung in den orthodoxen Kirchen dar. Diese Himmlische Liturgie ist das Urbild aller Gottesdienste und aller Gebete der Christen, die nach ihren beschränkten Kräften in dieses immerwährende Gotteslob der Engel einschwingen, sich von der Resonanz ergreifen lassen bis zum harmonischen Einklang der ganzen Gemeinschaft der Kirche über Raum und Zeit hinweg und stellvertretend auch für die unterpersönliche Schöpfung, mit der die Menschen als körperlich-sinnlich verfasste Wesen innig verbunden sind. Orthodoxe können überhaupt nur in der Gemeinschaft beten. Selbst noch die vertraulichste Zwiesprache mit Gott im stillen Kämmerlein oder in der Einsiedlerklause weiß sich immer einbezogen in die Gemeinschaft der Heiligen und vor allen anderen der Engel-Liturgen, deren ganzes Sein diese eindeutige und uneingeschränkte Hinwendung zu Gott ist. Natürlich brauchen sie als Geistwesen keine Flügel, denn sie bedürfen keiner aerodynamischen Kräfte um sich im Kosmos zu bewegen. Aber fliegende Wesen sind für uns Menschen nun einmal die sprechendsten Sinnbilder der Freiheit und Leichtigkeit, so wie wir uns ja auch den Hl. Geist im Bild der Taube (aber auch der leicht beweglichen Medien Wasser und Feuer) vorstellen.
Nach den Worten des hl. Johannes Chrysostomos ist es gerade das Gebet, das uns mit den Engeln verbindet und unsere gemeinsame Würde als Krone der Schöpfung ausmacht. Es vermag nicht nur unser Herz ins Unendliche zu weiten, sondern auch unser ganzes Sein und Leben zu verwandeln.

Direkten Ausdruck findet diese grundsätzliche und immer gültige Gebetswirklichkeit bei den sichtbaren Höhepunkten der kirchlichen Göttlichen Liturgie, den beiden Einzügen, d.h. den feierlichen Prozessionen der Liturgen aus dem Altarraum durch die Norddtür der Ikonostase und nach dem Durchschreiten des öffentlichen Kirchenraumes zurück durch die Königlichen Türen, die den Eintritt ins Himmelreich symbolisieren. Im Wortgottesdienst der Katechumenen, der noch nicht Getauften, geschieht der „Kleine Einzug“ mit dem Evangeliar zur Vergegenwärtigung der öffentlichen Wirksamkeit des Lehrers Jesus Christus zum Heil der Welt. Und beim „Großen Einzug“ zum Beginn der Liturgie der Gläubigen werden die eucharistischen Gaben auf den Altartisch übertragen, um im Geheimnis des Todes und der Auferstehung Christi die Gemeinschaft des Hl. Abendmahles, der Kommunion mit Gott, zu ermöglichen.
Zum Kleinen Einzug betet der Priester – leider heute nur leise und den Ohren der Gemeinde verborgen:
„Gebieter, Herr unser Gott, der Du im Himmel die Ordnungen und Heere der Engel und Erzengel eingesetzt hast zum Dienst Deiner Herrlichkeit, lass mit unserem Einzug heilige Engel einziehen, die mit uns die Liturgie vollziehen und Deine Güte mit verherrlichen.“
Und vor den Augen und Ohren aller Anwesenden, während die ganze Kirche geheimnisvoll erfüllt wird mit dem Weihrauch, der mit den Gebeten zum Himmel emporsteigt und dabei auch die Gläubigen als Bilder Gottes mit der Anräucherung würdigt, erklingt sehr gemessen und feierlich und die Seele zur Gemeinschaft mit Gott erhebend der „Cherubim-Hymnus“, den wir auch vorhin im Konzert gehört haben:
„Im Mysterium bilden wir die Cherubim ab und singen der Leben schaffenden Dreiheit den Hymnus des dreifachen Heilig. Lasst uns ablegen alle Sorgen dieser Welt, um zu empfangen den König des Alls, Den unsichtbar erheben die Heerscharen der Engel. Alleluja.“
Mit den körperlichen Augen sichtbar ist nur die Übertragung von Brot und Wein (und dies nicht einmal wirklich, denn die heiligen Gefäße sind verhüllt, um das unbegreifliche Geheimnis zu wahren); so wie ja im Einzug des Gottessohnes in Jerusalem zu seiner Passion nur ein armer Mensch auf einem erbärmlichen Esel zu sehen war. Die im Organismus der Kirche geschulten geistigen Augen sehen aber damals wie heute das Drama der Inthronisation des Pantokrators durch die Kinder des königlichen Reiches und den Triumphzug auf den Schultern Seiner Engel. Wenn wir manchmal wirklich ergriffen werden von der Schönheit des Gottesdienstes und der Innigkeit des Gebetes (erzwingen kann man solche Zustände nicht), dann dürfen wir der Gemeinschaft der Engel vertrauensvoll gewiss sein. Vor Visionen und Auditionen sollten wir uns aber besser hüten. Wer traut sich schon zu, sie von Täuschungen und Wunschprojektionen zu unterscheiden! In der Religion sind Nüchternheit und Bodenhaftung bessere Ratgeber als die Erwartung des Sensationellen und rauschhaft Wohligen.
Vor dem Sanctus, dem Dreimalheilig, und den Einsetzungsworten betet der Priester im Darbringungsgebet:
„Wir danken Dir auch für diese Liturgie, die Du aus unseren Händen entgegenzunehmen geruhst, Den doch Tausende von Erzengeln und Abertausende von Engeln umgeben, die Cherubim und die Seraphim, die sechsflügeligen, vieläugigen, auf den Flügeln sich erhebenden, die den Siegeshymnus singen und rufen und jauchzen und sprechen.“
Jeder Aufstieg zum unendlichen Gott, ja schon der Aufblick zu Ihm als dem Ziel unseres Lebens sollte uns erschauern lassen vor der Größe und Verheißung unseres Strebens und uns schützen vor der Banalisierung und der lieblosen Routine. Deshalb betet die Kirche in den Stundengebeten vom Morgen bis zum Abend immer wieder – wir haben es auch soeben im Nachtgebet getan:
„Beschirme uns durch Deine heiligen Engel, damit wir, durch ihre Schar bewacht und belehrt, zur Einigung im Glauben und zur Erkenntnis Deiner unaussprechlichen Herrlichkeit gelangen. Denn Du bist gepriesen von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Stets geht es um die Resonanz der von Gott angesprochenen Geschöpfe mit dem Lebensatem des Schöpfers im Gleichklang mit der ganzen Schöpfung, die nach den Worten des hl. Paulus wie die Kinder Gottes seufzt und sich nach der Erlösung sehnt. (Röm 8,18-27) Und die Menschen sind im Einklang mit den Engeln berufen, die ganze Schöpfung vor Gott priesterlich zu vertreten.
„Aller Odem lobe den Herrn!“ Das ist die Musik der Engel als personale Resonanzwesen schlechthin, die unsere Lehrer und Vorsänger und Dirigenten sind, so dass wir unser ganzes Leben zum Instrument für die „himmlischen Klänge“ werden lassen, die wir nicht nur mit den Ohren hören und mit den Kehlen verstärken, sondern zum vielstimmigen und vielfarbigen Orchester im Königreich Gottes werden lassen. Jedes Stoßgebet im stillen Kämmerlein ist genauso ein Beitrag zu dieser grandiosen Komposition wie das harmonisch geordnete liturgische Leben der Kirche und die Gipfelleistungen menschlicher Chor-Kunst, wie sie in den verschiedenen Traditionen geschaffen und vervollkommnet wurden. Es ist an uns, in diese immerwährenden „himmlischen Klänge“ der Schöpfung mit einzuschwingen und unsere Herzen erheben und weiten zu lassen.


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