Mittwoch, 12. März 2014

Wie Orthodoxe beten - P. Nikolai Wolper

                                                                   
 „Ich Bin der Weinstock,
 ihr seid die Reben.“ (Joh 15,5)

                            

„Den Himmel erden“: Das können nicht wir tun aus eigener Kraft, sondern wir können nur antworten auf die „Erdung“, die der Dreieine Gott Selbst durch die frei gewollte Menschwerdung des Sohnes gewirkt hat. Eine Antwort auf dieses Gnadenhandeln Gottes ist die Schreibung und Verehrung von Ikonen als sinnlich konkretes Bekenntnis zur Inkarnation. Eine andere Antwort ist das immer währende Gebet der Kirche, in das wir als einzelne Getaufte mit unseren begrenzten Kräften zeitweise einstimmen und uns so als leib-seelisch-geistig verfasste Wesen zum offenen Himmel erheben.

1. Theologische Grundlage

Die theologische Grundlage des orthodoxen Gebetslebens sind die Abschiedsreden Jesu, wie sie im Johannes-Evangelium berichtet werden. Besonders das 15. Kapitel gibt uns die gar nicht genug auszuschöpfenden Hinweise mit dem Bild vom Weinstock, dessen Winzer der Vater sei und dessen Reben die Christus-Gläubigen bildeten. „Wer in Mir bleibt und in wem Ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von Mir könnt ihr nichts vollbringen.“ (V.5) Und das Bild vollendet sich im Lobpreis der Liebe: „Wie Mich der Vater geliebt hat, so habe auch Ich euch geliebt. Bleibt in Meiner Liebe! (...) Dies trage ich euch auf: Liebet einander!“ (Joh 15,9.17) Und nachdem Er seine Mission, die Schöpfung wieder mit Gott zu versöhnen, erfüllt hatte, verabschiedete der Sohn Sich in Seiner in Raum und Zeit begrenzten menschlichen Gestalt und versprach, den „Tröster-Beistand“ zu senden, den „Geist der Wahrheit, Der vom Vater ausgeht“ (Joh 15,27). Das Pfingstfest, an dem dies Wirklichkeit wurde, ist der Geburtstag der Kirche, und im Leben des Einzelnen ereignet sich das Pfingstgeschehen im Mysterium der Myronsalbung, der „Firmung“, die die Verbindung mit dem Tod und der Auferstehung des Herrn besiegelt. Der hl. Apostel Paulus erinnert uns an die Bedeutung dieser Heils-Zusage: „Ihr habt den Geist empfangen, Der euch zu Söhnen macht, den Geist, in Dem wir rufen: ‚Abba, Vater’.“ (vgl. Röm 8,14-17
Der ganze Sinn des christlichen Lebens ist die Vereinigung mit Gott, und diese ist nicht möglich ohne die Vereinigung mit Christus, dem Mensch gewordenen Gottessohn, in der Kirche. Diese heilige Gemeinschaft der Sünder ist der Erfahrungsraum, in dem sich unser alltägliches Leben mit Gott verwirklicht. Der innergöttliche Dialog Jesu mit Seinem Vater bildet die Grundlage allen Betens, zu dem wir überhaupt fähig und berufen sind, eingeladen zur liebenden Teilhabe an der göttlichen Gemeinschaft.
Die Ikone der Hl. Dreieinigkeit, die den tiefen Sinn der Gastfreundschaft Abrahams und Sarahs im Hain Mamre offenbart (Gen 18), ist das Urbild dieser Liebeseinheit, die Gott von aller Ewigkeit her schon IST. (Westwand unserer Kirche) Und die Ikone der Gottesmutter Maria –wie in unserer Apsis- verkörpert in ihrer betenden Öffnung der Hände und des Herzens, ihres ganzen Seins, die dankbare und vertrauensvolle Hingabe der Schöpfung an diesen Dreieinen Gott. Nach der Lehre des Apostels Paulus ist die Kirche der Leib Christi, in dem alle Getauften Glieder und Organe sind (1 Kor 12,12ff; Eph 4). Alles Gebet der Orthodoxen will diese Geste der Verherrlichung des Dreieinen Gottes verwirklichen. Deshalb gehört wie das täglich mindestens einmal gesprochene Glaubensbekenntnis (das ausführliche von Nizäa und Konstantinopel von 381) auch der Lobpreis der Gottesgebärerin zu jedem orthodoxen Gebet:
     „Die du ehrwürdiger bist als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim,
      die du unversehrt Gott, das Wort, geboren hast, wahrhaftige Gottesgebärerin,
      dich preisen wir hoch!“


2. Die Praxis
Orthodoxes Gebet ist Anbetung und deshalb auf die Ikonen als Fenster zur Ewigkeit hin ausgerichtet. Die Gemeinschaft der Gläubigen ergibt sich aus dieser auch räumlich gleichgerichteten Orientierung aller Betenden.

So ist das eigentliche Beten der von der langen Erfahrung und Tradition der Kirche geformte Mitvollzug des öffentlichen und feierlichen Gottesdienstes, den der Einzelne sich auch in seinem privaten Leben in bescheidenerer Form aneignet und nach seinen Kräften einübt und pflegt. Der Weinstock und der Leib Christi sind die biblischen Bilder für die Wirklichkeit der Kirche als eines Organismus, von dem wir uns nur mit dem Risiko von Verkümmerung und Tod abtrennen können. Dieses Bewusstsein der über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg alle Orthodoxen verbindenden Gebetsgemeinschaft hat eine überaus tröstliche und das Leben auch in Krisen und Schwächen und hoffentlich auch im Sterben tragende Kraft.

Alle orthodoxen Gebete werden eingeleitet mit der Anrufung des Hl. Geistes, in Dem allein die Gemeinschaft mit Gott überhaupt nur möglich ist, und mit dem Lobpreis der Hl. Dreieinigkeit:

     „Himmlischer König, Tröster, Geist der Wahrheit,
       Der Du überall bist und alles erfüllst; Hort der Güter und Spender Lebens:
       Komm und wohne in uns, reinige uns von allem Makel und rette, Gütiger unsere Seelen.“
     „Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!“ (3x) (...)
     „Ehre sei dem Vater und Sohn und dem Hl. Geist, jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit.“

Und diese Einleitung wird dann abgeschlossen mit dem Vaterunser, in dem wir uns unserer Gottes-Kindschaft versichern.

Danach öffnet die Kirche den Psalter als den Gebetsschatz des Gottesvolkes, den die Kirche sich aneignet aus dem Glauben an Christus, Der alle Verheißungen des Alten Bundes vollendet und erfüllt hat. Hier betet der Gottessohn Selbst zu Seinem Vater aus der Fülle der menschlichen Erfahrungen von Freude, Dank, Trauer, Klage, Fluch und Zuversicht heraus. Alle kirchlichen Gebete werden von Psalmen, die den jeweiligen Anlässen entsprechen, geprägt. Wieder und wieder werden die Gläubigen angehalten, auch im eigenen Gebet sich mit dem Psalter vertraut zu machen. Zahlreiche Zitate einzelner Psalmverse gliedern auch die sonstigen Gottesdienst-Vollzüge (z.B. die „Prokimen“ –Vorbereitungen zu den biblischen Lesungen –  und die Einschübe in die anschließenden Alleluja-Gesänge). Sie verweisen so wechselseitig auf die organische Einheit der Hl. Schrift.

Ein wesentliches Formprinzip orthodoxen Betens sind die vielfachen Wiederholungen, die westlichen Menschen vielleicht befremdlich erscheinen mögen, weil sie ungeduldig werden und meinen, Gott verstehe unser Anliegen doch auch beim einmaligen Vortrag, so dass wir Zeit und Kräfte einsparen könnten. Aber Gebete sind eben keine Wunschzettel wie an den Weihnachtsmann, sondern der Atem des kirchlichen Lebens; und die rhythmische Gliederung von Lebensprozessen ist für den Erhalt aller Organismen notwendig. Das haben alle Kulturen der Welt schon immer gewusst, und die Orthodoxen haben diese Weisheit pfleglich bewahrt. 
Das rhythmische Einschwingen in das kirchliche Gebetsleben ist das Gegenteil von mechanischer Monotonie. Es bringt Geist, Seele und Leib in Einklang und verhilft zu der konkreten, nicht nur gedanklich beschworenen Erfahrung, dass der Mensch als ganzer zum Heil berufen ist. Deshalb glauben Christen ja an die Auferstehung des Leibes. Und so betet der Körper aktiv mit durch unzählige Bekreuzigungen, Verbeugungen und bei manchen Anlässen sogar völligen Niederwerfungen zur Erde. Auch die stehende Gebetshaltung ist Ausdruck dieser aktiven Zuwendung zu Gott. Überdies ist sie Zeichen der Würde des Menschen, der den göttlichen Personen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen darf, sinnlich vermittelt durch die Ikonen, aus denen uns Christus und die Heiligen anschauen.
Auch das Darbringen von Weihrauch vor den Ikonen und anderen heiligen Dingen (Altar, Evangelium; Taufwasser) und ununterbrochen beim priesterlichen Totengebet drückt die verehrende
Erhebung der materiellen Schöpfung zum Ursprung allen Seins sinnfällig aus: „Wie Weihrauch steige mein Gebet vor Dir auf...“ (Ps 140/141,2; feierlich gesungen und rezitiert in jeder Vesper mit großer Beweihräucherung der ganzen Kirche und aller Anwesenden; der Seher Johannes sieht die Gebete der Heiligen als Weihrauch zum Altar des Lammes aufsteigen; Apk 5,8; 8,3f.).

Weil die Orthodoxen sich nicht isoliert mit Gott im stillen Kämmerlein wahrnehmen, sondern als Glieder der kirchlichen Heilsgemeinschaft, sind die Fürbitten für Lebende und Tote, die ihnen nahe stehen, wichtige Elemente der Gebetspraxis. Ihre Namen werden nicht nur in die persönlichen Gebete eingefügt, sondern auch auf eigens dafür vorgesehene Zettel oder bei regelmäßigem Kirchenbesuch in dazu gedruckte Büchlein geschrieben und dem Priester zum öffentlichen Gebet anvertraut (für Kranke, Reisende, Gestorbene oder andere Menschen, an deren Schicksal man Anteil nimmt). Wenn der Priester vor der Göttlichen Liturgie die eucharistischen Gaben vorbereitet („Proskomidie“), ordnet er um das große Brotstück, das als „Lamm“ später zum Leib Christi konsekriert wird, kleine Brot-Partikel, die er aus den von den Gläubigen erworbenen „Prosphoren“ schneidet, auf dem goldenen Teller (Diskos) an zum Gedenken an Heilige – allen voran die Gottesmutter Maria zu Seiner Rechten – und die von den Gläubigen genannten Lebenden und Verstorbenen als Zeichen der Gemeinschaft der Kirche über Raum und Zeit hinweg. Beim Großen Einzug überträgt er sie dann feierlich auf den Altartisch.
Für viele Anliegen bestellen die Gläubigen beim Priester besondere Gebets-Andachten (Moleben) und Totengebete (Pannichiden), in denen die vertrauten Texte und Melodien erklingen und die Namens-Zettel gelesen werden. Auch der Beerdigungs-Gottesdienst ist keine tröstliche „Trauerfeier“ für die „Hinterbliebenen“, sondern eine einzige große Fürbitte für die Verstorbenen, denen wir in zahlreichen gesungenen und rezitierten Gebeten unsere Stimme leihen und die wir vertrauensvoll und in bleibender Gebets-Verbundenheit den Händen Gottes übergeben.

Ein weiterer ganz sinnlich-handfester Ausdruck der kirchlichen Einheit der Betenden ist die orthodoxe Praxis, vor den Ikonen zahlreiche Kerzen anzuzünden, wiederum verknüpft mit den Heils-Anliegen für andere Menschen und zu Ehren der Heiligen. Für die Verstorbenen gibt es dazu in jeder Kirche einen besonderen Platz, wo vor dem Bild des Gekreuzigten die Opferkerzen aufgestellt werden und auch der Priester die Totengebete („Pannichida“) darbringt.

Über dieses reiche kirchlich geformte, in den Büchern zugängliche Gebetsleben hinaus ist jedem Orthodoxen die innige Pflege des ganz persönlichen „Jesus-Gebetes“ ans Herz gelegt, das in besonderer Weise, noch vertieft, wenn es mit dem Rhythmus der Aus- und Einatmung verbunden wird, die Sehnsucht  nach der Vereinigung durch Christus mit dem Dreieinen Gott zu  erfüllen vermag: fruchtbare Rebe zu sein am Weinstock, dessen Winzer der Vater ist. Es hilft, in den Wirren und Ablenkungen des Alltags uns jederzeit wieder „einzuloggen“ in das „Netzwerk“ zu unserer himmlischen Heimat und verwirklicht  mit einfachsten Worten unsere Geste der Hinwendung zum Arzt unserer Seelen und Leiber in der Lobpreisung und in der vertraulichen Bitte
 „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner (des Sünders)!“

Und nicht nur in der großen Fastenzeit, wenn es durch Verbeugungen und Niederwerfungen auch körperlichen Ausdruck findet, verdichtet das Bußgebet des hl. Ephräm des Syrers unsere demütige Haltung des Gebets, das uns über die Grenzen unseres weltlichen Daseins hinausträgt:

   „Herr und Gebieter meines Lebens,
    den Geist des Müßiggangs, des Kleinmuts der Herrschsucht und unnützer Rede nimm von mir.

    Gib hingegen mir, Deinem Diener, den Geist der Besonnenheit, der Demut, der Geduld und der Liebe.

    Ja, mein Herr und mein König, lass mich sehen meine Fehler und nicht richten meinen Bruder, denn Du bist verherrlicht von Ewigkeit zu Ewigkeit!“   Amen.

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